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Copyright: Die Pretendercharaktere gehören nicht mir. Auch die Highlander- und Dark Angel-Charaktere gehören nicht mir. Die Liedzeile stammt aus dem Titel "Satellite" by TheHooters und wurde von mir ohne Urheberrechtsverletzung benutzt. Ich verfolge keine finanziellen Interessen. Alle anderen Charaktere sind von mir frei erfunden und urheberrechtlich geschützt.



Nicatlon-Serie
Teil 4
von Nicole




29/07/00
Jarods Unterschlupf
Castles Creek, Montana
06:45Uhr

Wer schon mal einen Sonnenaufgang in Montana erlebt hat, kann verstehen, warum ich schon so zeitig aufgestanden war. Der hellrot glühende Feuerball erhob sich majestätisch über die Berge und sein Licht erhellte die raue Landschaft. Ich trat auf die Veranda der kleinen Berghütte hinaus und blieb dann lächelnd stehen. Natürlich waren die Beiden schon auf, wie hätte es anders sein können. Sydney hätte nie zugelassen, dass Jarod so ein Naturschauspiel versäumt. Mentor und Schützling lagen friedlich nebeneinander auf einer kleinen Anhöhe und genossen die kühle Morgenluft. Da ich diese Idylle nicht stören wollte, sagte ich nichts. In letzter Zeit tat ich das immer öfter; schweigen und die beiden alten Freunde beobachten. Sie sahen so sanftmütig aus. Seit Sydneys schwerer Verletzung war nun mehr als ein Jahr vergangen. Er hatte sich gut erholt. Nur sein linkes Bein wollte ihm noch nicht recht gehorchen. Beim Gehen lahmte er ein wenig. Doch wenn man bedachte, dass er beinahe gestorben wäre, war diese leichte Behinderung wirklich ein geringer Preis. Das Centre glaubte noch immer, Sydney wäre tot. Wir hatten nie mehr Kontakt mit ihnen gehabt. Jarod hinterließ keine Spuren mehr und so war die Jagd beendet worden. Endlich lebten wir das Leben, das wir immer verdient hatten. Schließlich bemerkte mich Sydney und rief:

"Komm her, Nicatlon! Es ist einfach herrlich."

Schmunzelnd ging ich auf meine Freunde zu. Jarod rückte ein wenig zur Seite, sodass ich mich zu ihnen gesellen konnte. Es war wirklich ein herrlicher Morgen, und dennoch lag bereits ein Hauch von Abschied in der Luft. Doch diesen konnte nur ich allein spüren.

29/07/00
Haupteinkaufsstraße
Castles Creek, Montana
14:00Uhr

"Ich hätte gern einen Caffe Latte und Stück Käsekuchen."
Die Bedienung nickte freundlich und entfernte sich dann eilends, um meine Bestellung zu bearbeiten. Ich hatte gerade den wöchentlichen Einkauf für uns Drei erledigt und gönnte meinen geschwollenen Beinen eine kleine Pause. Das kleine Eiscafe lag inmitten der Fußgängerzone und war dementsprechend gut besucht. Die Sonne fiel schräg durch die raumhohen Fenster und trieb ihr Spiel mit dem Geschirr und Besteck auf den Tischen. Deshalb fiel es mir auch nicht sofort auf, als ein wohlbekanntes Gesicht das Lokal betrat.

Erst als er an meinem Tisch stehen blieb, blickte ich erschrocken hoch. Lange, schwarze Haare, eine durchaus anziehende Figur und ein Grinsen so breit wie der Mississippi; kein Zweifel, er war es!

"Meine Güte, Duncan! Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen.", trompetete ich.

Duncan lächelte warm. Kurzentschlossen und von einem Gefühl jugendlicher Energie überwältigt sprang ich auf und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Die anderen Leute im Cafe dachten sicher:

`Was will diese alte Schachtel mit dem knackigen Typen da?´

Doch das interessierte mich herzlich wenig. Wenn die wüssten, dass Duncan und ich schon befreundet waren, als die meisten der Gäste noch gar nicht geboren waren!? Wir setzten uns, und ich bekam meine Bestellung. Duncan orderte einen Scotch und musterte mich eingehend. Irgendetwas gefiel mir nicht an diesem Blick. Er wirkte so sorgenvoll. Schließlich platzte es aus mir heraus:

"Na, nun erzähl schon! Wie ist es dir ergangen? Was macht Tessa? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!"

Duncan sah aus dem Fenster, doch in Wirklichkeit schien er, in die Vergangenheit zu blicken.
Traurig eröffnete er mir:

"Tessa ist vor ein paar Jahren gestorben. Erschossen. Ich konnte nichts machen."
Darauf konnte ich nun wirklich nichts erwidern. Ich legte meine Hand auf seine und schlug betrübt die Augen nieder. Es trat ein unangenehm langes Schweigen ein, das ich schließlich durchbrach:

"Ich hab in der Zwischenzeit wieder einen Schützling. Es ist ein junger Mann, der... wie soll ich sagen... eine schwere Kindheit hatte. Das ist ein reiner Freundschaftsdienst für meine alten Mithäftling. Aber ich glaube, die Beiden brauchen mich bald nicht mehr. Weißt du, heute da..."

Ich hielt überrascht inne, als ich bemerkte, wie Duncans Augen aufleuchteten. Er sah mich flehend an und fragte:

"Soll das etwa heißen, du hast Zeit, bist sozusagen ungebunden?! Oh Nicatlon, das wäre ja klasse!" Was um alles in der Welt ging hier vor?

"Weißt du, es geht um folgendes...", begann Duncan zögernd, "Vor ein paar Wochen stand ganz plötzlich ein kleines Mädchen vor meiner Tür. Sie trug einen steril wirkenden Kittel und war völlig verstört. Anscheinend hatte sie Schlimmes erlebt. Sie sagte, ihr Name wäre Max und dass sie furchtbare Angst habe. Ich habe sofort gespürt, dass sie eine von uns werden würde... irgendwann. Letzte Woche bin ich gestorben und Hunderte haben es gesehen. Ich musste aus Seattle verschwinden und Max zurücklassen. Ich habe ihr gesagt, sie solle in meiner Wohnung warten, und dass ich jemanden schicken würde, der sie beschützt."

"Und du hast ausgerechnet mich auserkoren, ihre Großmutter zu spielen, ja?!", unterbrach ich ihn. Duncan sah mich verständnislos an.

"Sie ist ein kleines, hilfloses Ding; vielleicht grade zehn oder zwölf Jahre alt. Wie kannst du nur so kaltherzig sein? Sie braucht eine Mutter!", donnerte er erbost.

Die Leute im Cafe schienen unsere Unterhaltung durchaus interessant zu finden. Köpfe wurden umgedreht, und ein Getuschel setzte ein. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Wütend, aber auch verwirrt sagte ich:

"Ich fürchte, dafür bin ich etwas zu alt. Außerdem hast du gesagt, sie wäre unsterb... na ja, eine von euch. Wie soll ich sie großziehen? Kennst du nicht jemanden deiner Art, der sie aufnehmen könnte?"

Ich konnte Ungeduld und Verzweiflung in seinen Augen aufblitzen sehen. Es schien, als würde ihm wirklich etwas an diesem Kind liegen. Außerdem konnte ich auch mal wieder etwas frischen Wind vertragen. Eines stand fest: Sydney und Jarod brauchten mich nicht mehr. Also warum nicht? Während ich mich für die Idee zu begeistern begann, beantwortete Duncan meine Fragen:

"Ich traue keinem so sehr wie dir, Nicatlon. Ein anderer Unsterblicher würde in Max vielleicht ein leichtes Opfer sehen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Noch dazu bist du Psychologin, und ich hab das Gefühl, dass sie die jetzt dringend braucht."

Ganz war ich aber noch nicht überzeugt. Ich senkte den Blick und flüsterte:

"Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, Duncan. Ich bin 64 Jahre alt. Vor einem schwert-schwingenden Kopfjäger werde ich sie nicht beschützen können."

Auch er blickte nun zu Boden. Es war immer ein schwieriges Thema zwischen uns gewesen, dass ich älter wurde und er nicht. Früher einmal, als ich noch jung gewesen war, habe ich Duncan begehrt. Doch nun sah ich in ihm eine Art Sohn. Schließlich durchbrachen seine Worte die kurz eingetretene Stille:

"Niemand verlangt von dir, sie vor anderen Unsterblichen zu beschützen. Ich habe ein Bankkonto eingerichtet mit 50 000 Dollar. Du kannst dir einen Bodyguard nehmen oder auf heiligen Boden ziehen; ganz wie du willst. Hör zu, Nic, ich würde dich damit nicht belästigen, wenn es nicht wirklich dringend wäre. Dieses Kind braucht ein Zuhause. Wenn du erst mal in ihre traurigen Augen geschaut hast, wirst du dich vom Fleck weg in sie verlieben. Ich bitte dich inständig. Nimm dich ihrer an!"

Seine Worte waren so eindringlich, so flehend, dass ich ihm den Wunsch nicht abschlagen konnte. Da ich es hasste, wenn Gespräche sentimental endeten, stand ich auf und sagte im Gehen:

"Na schön, ich tu's! Aber nur, wenn du meine Zeche zahlst."

Damit verschwand ich zur Tür hinaus. Erst als mich die Nachmittagssonne mit ihrem Licht umhüllte, war ich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

29/07/00
Jarods Unterschlupf
Castles Creek, Montana
20:35Uhr

Die Trapperhütte leuchtete gespenstisch im Zwielicht der Dämmerung. Vielleicht lag das aber auch an meiner Stimmung, die von Furcht und Entschlossenheit auf bizarre Weise dominiert wurde. Den ganzen Tag war ich durch die Stadt gewandert und hatte meine Entscheidung, nach Seattle zu gehen, überdacht. Es war richtig gewesen. Ich würde es bestimmt nicht bereuen. Nur auf eine Frage hatte ich keine Antwort gefunden: Wie sage ich es meinen Freunden? Ich trat auf die Veranda und stellte die Einkaufstüten ab, um nach dem Schlüssel zu suchen. Noch bevor ich ihn ins Schloss stecken konnte, riss Sydney die Tür auf und schrie:

"Großer Gott, Nicatlon, wo bist du gewesen? Wir waren krank vor Sorge!"

Sydney hätte mein Bruder sein können, und doch behandelte er mich wie ein kleines Kind. In die Defensive gedrängt antwortete ich schnippisch:

"Ich war einkaufen, wie der große Herr und Meister unschwer an den braunen Tüten erkennen kann. Unterwegs habe ich einen alten Freund getroffen, und wir sind zusammen in die Kiste gehüpft." So hatte ich mir den Beginn unseres Gespräches nicht vorgestellt.

Sydneys Augen weiteten sich vor Zorn. Ich wollte die Unterhaltung nicht ausarten lassen, da es schließlich um ein schwieriges Thema ging. Deshalb senkte ich beschwichtigend die Lider und sagte leise:

"Tut mir leid, ich will nicht streiten. Ich habe wirklich einen alten Freund getroffen, und er hat mich um etwas gebeten. Es geht um ein Kind, dass es zu betreuen gilt. Ich kenne die Vorgeschichte zwar noch nicht, aber es hat anscheinend schon viel durchgemacht. Es ist jetzt in Seattle und braucht jemanden, der es beschützt. Dieser Jemand bin ich."

Ich war über mich selbst erstaunt, dass ich es so leicht über die Lippen gebracht hatte. Sydney schaute auch recht verblüfft drein, wohl aber eher über die Aussage meiner Worte.

"Du willst also gehen.", stellte er nüchtern fest.

Seine Gesichtszüge schienen zu gefrieren. Er wandte den Blick ab und schwieg beharrlich. Ich hatte keine Lust auf diese Psychospielchen. Müde sank ich in einen Schaukelstuhl vorm Kamin. Die Holzscheite knisterten in ihrem Kampf gegen die züngelnden Flammen. Schließlich sagte ich mit lahmer Zunge:

"Hör zu, Sydney, wir beide wissen doch genau, dass ihr mich nicht mehr braucht. Jarod ist glücklich an deiner Seite, und du bist es auch. Das Centre ist euch nicht mehr auf den Fersen. Ihr könnt zufrieden leben bis ans Ende eurer Tage. Meine Mission hier ist erfüllt. Ich habe euch beide zusammen gebracht."

Ich unterbrach mich kurz, um seine Reaktion auf dieses Statement abzuwarten. Und tatsächlich starrte er mich entgeistert an. Mit zittriger Stimme sprach er:

"Deine Mission? Uns zusammen gebracht? Nicatlon, ist das dein Ernst?! Ich dachte, es wäre deine Aufgabe gewesen, Jarod in Freiheit zu begleiten."

"Ja, das sollte man meinen.", raunte ich, "Wie auch immer, ich bin hier fertig, und dieses Kind braucht eine helfende Hand. Ich bitte dich, Syd, wir sind doch beide erwachsen. Können wir nicht einfach als Freunde auseinander gehen?"

Sydney trat ans Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit. Ich hasste es, ihn traurig machen zu müssen, aber mir blieb keine Wahl. Innerlich wappnete ich mich für das bevorstehende Wortgefecht. Er würde sicher anmerken, dass ich zu alt für so was wäre, dass die Sache gefährlich werden könnte, und tausend andere Gründe, warum ich nicht gehen sollte. Es würden genau die gleichen Argumente sein, die ich bei Duncan vorgebracht hatte, um meine Unsicherheit zu überspielen. Und sie würden genauso abwegig sein. Doch was dann geschah, übertraf alle meine Erwartungen. Bedächtig wandte mir Sydney das Gesicht und sagte betont langsam und monoton:

"Dann geh, Nicy. Ich halte dich nicht auf. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn dieses Kind – was immer es erlebt hat – meinetwegen nicht in den Genuss deiner Bekanntschaft kommt. Du hast ein gutes Herz, Nicatlon. Gib Acht, dass die Vergangenheit dieses Kind es nicht zu Eis gefrieren lässt!"

Also damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Sydneys Blick war sanft, geduldig, als ich auf ihn zuging und ihn in meine Arme schloss. Wir weinten lautlose Tränen, aber sie waren nicht aus Schmerz geboren. Kein Funke Zorn oder Reue über die getroffene Entscheidung existierte in ihnen. Nein, es waren Tränen des Abschieds, wie sie nur bei zerberstenden Herzen voll inniger Liebe entstehen.

Die Nacht hatte ihren Mantel schützend über die Welt geworfen. Ich betete, dass sie auch mir Unterschlupf bei der herannahenden Reise bieten würde. So viele Geschöpfe fühlten sich in ihr geborgen; also warum nicht ich? Auf leisen Sohlen schlich ich durch den Flur ins Wohn- zimmer. Das Mondlicht fiel durch das Fenster und tauchte die Szenerie in geisterhaften Schein. Die Stube war leer; nur die Möbel bezeugten stumm, was nun geschah. Ich nahm das Diktiergerät aus meinem Rucksack und deponierte es auf dem Couchtisch. Es sollte erklären, begründen,... trösten. Daneben legte ich einen braunen Umschlag. Ein Lächeln huschte mir übers Gesicht. Ich hatte Kopf und Kragen riskiert, um an den Inhalt zu kommen. Es hatte sich gelohnt. Sie würden sich freuen. Noch einmal ließ ich den Blick durch das Zimmer schweifen. Eine nostalgische Träne rann mir über die Wange. Ich wischte sie fort. Dann schnappte ich meinen Mantel und trat durch die Tür ins Freie. Die Kühle der Nacht betäubte meine Zweifel. Dem ersten Schritt folgten weitere. Ich war aufgebrochen, das Leid eines Kindes zu lindern. Mein eigenes Leid war jetzt ohne Bedeutung.


30/07/00
Duncans Appartement
Seattle, Washington State
08:45Uhr

Das Mietshaus ragte, triefend vor Spießigkeit, an der Main Street empor. Ich blickte, teils ängstlich teils euphorisch, an der Fassade hinauf und suchte Duncans Apartment. Was würde mich hinter diesen Fenstern erwarten? Einen letzten tiefen Atemzug tätigend trat ich durch die Haustür und schritt dann zielstrebig auf den Lift zu. Einen Treppenaufstieg hätte ich bei meiner Nervosität wohl nicht überstanden. Ich wäre wahrscheinlich auf halber Strecke umgekehrt.

"Meine Güte, Nicatlon, reiß dich bloß zusammen!", schalt ich mich innerlich.

Der Aufzug stoppte abrupt und riss mich aus den Gedanken. Ich ging über einen düsteren Flur und las währenddessen die Namensschilder an den Türen. Die Tür mit der Aufschrift "Duncan MacLeod" war durch ein grellorangefarbenes Polizeiband gesichert. Erste Mutlosigkeit stellte sich bei mir ein. Vielleicht war das Mädchen gar nicht mehr hier. Duncan hatte mir nicht erzählt, wie er gestorben war. Vielleicht war es ein Mordfall gewesen. Alle Skepsis wurde ausgelöscht, als ich plötzlich ein ersticktes Schreien aus der Wohnung vernahm. Obwohl ich nie eigene Kinder gehabt hatte, ging mir dieses Wimmern durch Mark und Bein. Mein Beschützerinstinkt wurde geweckt. Ich zerriss die Absperrung und trat die Tür ein. Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn sie war nicht mal verschlossen. Doch mich interessierte das kaum. Ich spürte, dass etwas nicht in Ordnung war und musste der Angst vor dieser Ahnung Luft machen. Rasch überschaute ich die Wohnung und entdeckte ein kleines, zuckendes Etwas auf dem Fußboden. War das etwa Max? Es blieb keine Zeit, wunderlich zu sein. Ich rannte auf sie zu und kniete mich neben ihren spasmisch krampfenden Körper. Sie erlitt offensichtlich gerade einen epileptischen Anfall. Oh Gott, sie hatte sicher Todesangst! Vorsichtig nahm ich ihren Kopf auf meinen Schoß. Ich steckte ihr den Zipfel meines Mantels in den Mund, sodass sie sich nicht auf die Zunge beißen konnte. Ihre gehetzten Augen suchten mein Gesicht. Ihr Blick war so voller... Kummer; ein Kummer, der nur entsteht, wenn man schon zu viel Blut und Tod gesehen hat. Ich hatte erst einmal ein Kind mit solchen Augen gesehen. Vor dreißig Jahren bei einem kleinen Jungen...

Der Anfall schien, sich noch zu verschlimmern. Behutsam legte ich den Kopf auf ihre bebende Brust und begann, leise zu singen:

"Hush little baby, don't cry like that! God's gonna buy you a Cadillac…."

30/07/00
Jarods Unterschlupf
Castles Creek, Montana
09:10Uhr

Die ungetrübten Sonnenstrahlen eines Spätsommermorgens erweckten Jarod aus tiefem Schlaf. So spät hatte er eigentlich gar nicht aufstehen wollen. Voller Elan sprang er aus dem Bett, besann sich dann aber eines Besseren. Er wollte seinen Mentor nicht wachmachen, sondern ihn mit einem Frühstück überraschen. Nicatlon würde ihm dabei helfen müssen, da sie hervorragende Pfannkuchen zaubern konnte. So schlich er sich in ihr Zimmer und blieb dann überrascht stehen. Der Kleiderschrank war ausgeräumt, das Bett völlig unberührt. Sie musste gestern Abend weggegangen sein. Jarod fragte sich, was geschehen sein mochte, dass sie einfach so verschwunden war. Nun würde er Sydney doch wecken müssen. Er ging, ohne anzuklopfen, in Sydneys Kammer und sagte leise:

"Hey, Sydney! Komm schon, wach auf! Nicatlon ist fort."

Die verschlafenen Augen des Psychiaters wurden blitzschnell hellwach. Er starrte Jarod eine geschlagene Minute lang, bevor er begriff. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge, und er brachte eine Antwort hervor:

"Ja, ich weiß. Sie hat es mir gestern gesagt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie sich so schnell aus dem Staub machen würde. Hat sie etwas zurückgelassen?"

Der junge Mann zuckte mit den Schultern und erwiderte:

"Also in ihrem Zimmer ist nichts. Vielleicht in der Wohnstube... Wo will sie eigentlich hin?"

"Soweit ich weiß, geht es um ein Findelkind mit bewegter Vergangenheit. Sie wurde von einem alten Freund gebeten, sich des Kindes anzunehmen.", erklärte Sydney.

Beide noch im Pyjama und mit zersausten Haaren stiegen sie Treppe hinab ins Wohnzimmer. Sydney entdeckte als Erster die deplaziert wirkenden Gegenstände auf dem Couchtisch. Er rief Jarod herbei, und sie betrachteten gemeinsam die zurückgelassenen Gebilde. Schließlich schnappte sich Jarod das Diktiergerät und betätigte die "Play"-Taste. Nicatlons brüchige Stimme erklang, verzerrt durch das fortgeschrittene Alter des Gerätes, aus dem Lautsprecher:

"Hallo meine Freunde! Wenn ihr dieses Tape hört, bin ich schon über alle Berge. Es tut mir leid, aber persönlich Abschied zu nehmen, hätte ich nicht übers Herz gebracht. Sydney, wir haben uns bereits gestern verabschiedet. Ich danke dir für deine lieben Worte. Jarod, verzeih mir, dass ich mich so einfach davonstehle, aber es gibt ein Kind wie dich, das meine Hilfe braucht wie Du. Ihr beide seid nun endlich vereint. Ich sehe euer Bild vor meinem geistigen Auge, und es macht mich glücklich. Ich bitte euch, lasst nie zu, dass dieses Bild zerstört wird! Gebt Acht auf das Band zwischen euch, denn es ist sehr zerbrechlich! Mein über alles geliebter Sydney, auch wenn wir uns vielleicht nie wieder sehen, bleibt deine Liebe in meinem Herzen. Ich danke dir für jede Stunde der Zweisamkeit, für jeden gemeinsamen Sonnen-aufgang, für jedes tröstende Wort in schwerer Zeit. Mein lieber Jarod, ich habe dich immer ein Stück weit als meinen Sohn gesehen, und daran wird sich nie etwas ändern. Ich bereue keinen Augenblick, den wir gemeinsam verbracht haben. Denn wir sind durch die Hölle gegangen und haben den Himmel gefunden. Hiermit sage ich Good-Bye. Behaltet mich in liebevoller Erinnerung! In ewiger Freundschaft, Nicatlon"

Die Beiden starrten sich eine halbe Ewigkeit an. Jeder hatte eine winzige Träne im Augen-winkel. Natürlich hätten sie das nie offen zugegeben, aber Nicatlon fehlte ihnen schon jetzt. Ihr Lachen, ihr Blick, ihr Gang; all das hatte Leben in dieses Haus gebracht. Sydney nahm niedergeschlagen den Umschlag und öffnete ihn, ohne viel zu erwarten. Eine zusammen- geklappte Karte mit der Aufschrift "Happy Father's Day" fiel heraus. Sydney schossen heiße Tränen übers Gesicht. Es war dieselbe Karte, die Jarod ihm vor langer Zeit gegeben hatte. Auch der Pretender war verblüfft, schließlich glaubte er Sydney hätte die Karte weggeworfen. Auf der Rückseite stand in Nicatlons Handschrift:

"You don't have to show your love. Feeling it is more important."


ENDE









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