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Rechtliche Hinweise: Die bekannten Charaktere der Fernsehserie The Pretender gehören MTM, NBC und 20th Century Fox (und leider nicht mir). Die folgende Geschichte dient keinerlei kommerziellen Zwecken, sondern wurde nur zum Vergnügen anderer Fans wie mir geschrieben.

Ein kleiner Hinweis in eigener Sache: Kostbare Momente ist die letzte Geschichte, die ich auf Deutsch schreiben werde – es sei denn, irgend jemand da draußen protestiert dagegen...

Spoiler: Bis zum Ende der dritten Staffel.

Zur Handlung: Miss Parker muß eine schwierige Entscheidung treffen...




Kostbare Momente
Teil 2

von Miss Bit






"Was wirst du jetzt tun?" erkundigte sich Miss Parker nachdenklich, nachdem sie eine ganze Weile schweigend die aufgehende Sonne betrachtet hatte. Als Jarod nach einer Minute noch nichts darauf erwidert hatte, drehte sie sich zu ihm um – um überrascht festzustellen, daß er gar nicht mehr da war.

Es irritierte sie ein wenig, daß sie sein Verschwinden nicht bemerkt hatte, aber ein Teil von ihr war auch froh, daß er fort war. Auf diese Weise hatte sie etwas Zeit für sich, konnte in Ruhe über alles nachdenken.

"Nervensäge", murmelte sie lächelnd, während sie einen letzten Blick auf den glitzernden See warf. Dann ging sie zurück ins Haus, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf nachzuholen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Gegen Mittag wurde Miss Parker von leisen Geräuschen aus ihrem leichten Schlaf geweckt. Unwillig öffnete sie die Augen und lauschte angestrengt. Was sie hörte, schien aus der Ferne zu kommen, vermutlich aus dem Erdgeschoß. Zuerst vernahm sie ein kurzes Rumpeln, dann ein gedämpftes Klappern und schließlich eine verärgert klingende Stimme. Obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte, war sie sich doch ziemlich sicher, daß jemand seinem Ärger Luft machte.

Nach einem kurzen Zögern entschloß sie sich, nach dem Rechten zu sehen. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, daß ein Einbrecher sich so ungeschickt anstellte, aber es konnte nicht schaden, der Sache auf den Grund zu gehen. Schließlich hatte Ben sie gebeten, auf sein Haus zu achten.

Sie zog sich ihren Morgenmantel über, zog ihre Waffe aus der Reisetasche und machte sich auf den Weg nach unten. Leise stieg sie die Treppe herunter und hielt inne, als sie die Stimme erneut hörte. Miss Parker lächelte – sie kannte diese Stimme. Hastig kehrte sie in ihr Zimmer zurück, um ihre Waffe wegzulegen, dann ging sie nach unten in die Küche. Wortlos blieb sie in der Tür stehen, lehnte sich an den Rahmen.

Die Küche bot ein Bild der Verwüstung. Einer der Stühle war umgefallen; direkt daneben lag ein kleiner Koffer, dessen Inhalt nun teilweise den Boden bedeckte. Mehrere der Töpfe, die normalerweise neben der Hintertür an der Wand hingen, waren heruntergefallen und lagen überall auf dem Boden verstreut. Ben stand mitten in dem Chaos und hatte Miss Parker den Rücken zugewandt. Sie unterdrückte ein amüsiertes Lächeln.

"Willkommen zu Hause, Ben", sagte sie herzlich, und er fuhr erstaunlich schnell herum. Sein Gesichtsausdruck änderte sich übergangslos von verärgert zu erfreut, als er sie sah. "Kann ich Ihnen vielleicht beim Aufräumen helfen?"

"Miss Parker!"

Er kam zu ihr und musterte sie für einen Sekundenbruchteil unschlüssig, dann schloß er sie in seine Arme, drückte sie kurz an sich, bevor er sie wieder losließ und einen Schritt zurücktrat. Erst jetzt schien er zu bemerken, daß sie nur einen Morgenmantel und darunter ihren Pyjama trug.

"Oh, habe ich Sie geweckt? Das tut mir leid."

"Ist schon gut", erwiderte sie sofort. "Ich wäre sowieso bald aufgestanden. Was ist hier passiert?"

Ben lächelte verschmitzt. "Nur eine kleine... Ungeschicklichkeit meinerseits."
Einen Moment lang schwieg er, sah sie nur an, und sie glaubte, Besorgnis in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

"Möchten Sie vielleicht etwas essen?" fragte er dann, nichts als Wärme und Herzlichkeit in seinem Blick. Miss Parker neigte den Kopf leicht zur Seite, während sie überlegte.

"Gerne", nahm sie sein Angebot an. "Ich will nur kurz duschen und mich umziehen."

"In Ordnung. Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich muß ohnehin erst mal hier aufräumen", erklärte er mit einem gutmütigen Zwinkern. Sie lächelte ihn warm an, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte und kurz darauf im Badezimmer verschwand.

Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam in Bens gemütlicher, kleiner Küche. Miss Parker hatte des Essen sehr genossen, besonders wegen Bens unaufdringlicher Gesellschaft. In seiner Gegenwart fühlte sie sich wohl und konnte das Centre lang genug vergessen, um sich zu entspannen. Wie gut ihr das tat, spürte sie besonders an ihrer verletzten Schulter, die zum ersten Mal seit Tagen nicht mehr schmerzte, obwohl sie keine Schmerztablette genommen hatte.

"Geht es Ihnen gut?"

Ben hatte sich besorgt vorgebeugt, sah sie fragend an. Sie runzelte erstaunt die Stirn, dann erinnerte sie sich daran, wie gut er ihre Mutter gekannt hatte. Vermutlich fiel es ihm nicht allzu schwer, zu erahnen, was sie beschäftigte – oder ob sie etwas belastete. Miss Parker seufzte leise. Es gab einiges, was sie Ben gerne erzählt hätte, aber hatte sie das Recht, ihn damit zu belasten?

"Ja. Ja... ich..." Ihr fiel selbst auf, wie unaufrichtig ihre Antwort klang. Mit einem langgezogenen Seufzen schüttelte sie den Kopf.

"Ich will Ihnen nicht meine Probleme aufdrängen", erklärte sie und sah Ben fest an. Er erwiderte ihren Blick voller Mitgefühl, dann lächelte er warm und griff nach ihrer Hand.

"Miss Parker, ich bin sehr froh, Sie wiederzusehen. Aber ich kann sehen, daß Sie mit Ihren Gedanken ganz woanders sind. Sie können mir alles erzählen, wenn Sie sich dadurch besser fühlen. Ich wäre froh, wenn ich Ihnen helfen könnte."

"Vielen Dank, Ben."

Sie drückte seine Hand und fühlte sich erleichtert, allein schon durch seine verständnisvolle Reaktion.

"Es ist einiges passiert, seit meinem letzten Besuch bei Ihnen..."

aaaaaaaaaaaaaaaa

Drei Tage später saß Miss Parker auf der Veranda. Ihr Blick ruhte auf dem See, in dem sich die untergehende Sonne spiegelte.

"Ich dachte, Sie wären hier, um mich zu besuchen", ertönte auf einmal Bens leise, amüsiert klingende Stimme von der Tür her. "Und jetzt sitzen Sie schon wieder allein hier draußen."

Miss Parker wandte sich halb zu Ben um und nickte in die ungefähre Richtung der Sonne.

"Es ist so friedlich hier. Ich kann mir keinen besseren Platz vorstellen, um sich einen Sonnenuntergang anzusehen", erklärte sie. Ben lächelte.

"Ihre Mutter hat oft hier gesessen. Sie konnte stundenlang auf den See hinaussehen."

Einen Moment lang nahm sein Gesicht einen gedankenverlorenen Ausdruck an, dann kehrte seine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück und ein Lächeln vertrieb die Sorge aus seinen Augen.

"Wissen Sie, Miss Parker", sagte er nachdenklich, "als Ihre Mutter nicht mehr wiedergekehrt ist, wußte ich sofort, daß etwas nicht stimmt. Mir war klar, daß ich sie nie wiedersehen würde. In den darauffolgenden Jahren war mein Leben lange nur von einem Gefühl der Trauer bestimmt, und ich habe viel gegrübelt. Eins habe ich in dieser Zeit gelernt – man sollte nicht zuviel nachdenken. Manchmal ist besser, einfach nur zu leben."

Miss Parker erwiderte Bens Blick, während sie über seine Worte nachdachte. Ihr war klar, was er ihr damit sagen wollte. In den letzen beiden Tagen hatten sie viel über Tommy und über den Schmerz gesprochen, den sein Tod bei ihr verursacht hatte. Ben hatte diese Erfahrung ebenfalls gemacht und nun wollte er sie an dem teilhaben lassen, was er daraus gelernt hatte. Es hatte ihr gut getan, endlich mit jemandem zu sprechen, der wirklich verstand, wie sie sich fühlte.

"Das sind weise Worte, Ben", erwiderte sie schließlich leise. "Aber im Moment bin ich noch nicht ganz sicher, ob ich danach leben kann."

Ben legte ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter.

"Ich verstehe", sagte er nur. "Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen später einige Fotos Ihrer Mutter. Sie wissen ja, wo Sie mich finden."

Als er sich umdrehte, um ins Haus zurückzukehren, griff Miss Parker nach seiner Hand und drückte sie leicht.

"Vielen Dank, Ben. Das würde ich sehr gerne tun. Ich komme gleich nach."

"In Ordnung, Miss Parker", antwortete Ben voller Wärme, dann ging er zurück ins Haus.

Miss Parker stand auf und streckte sich, stand einen langen Augenblick unschlüssig auf der Veranda, dann entschied sie sich, noch einen kurzen Abstecher hinunter zum See zu machen, bevor sie wieder hineinging, um Ben Gesellschaft zu leisten.

Sie folgte dem kleinen, gewundenen Pfad, der bis zum See und ein Stück am Ufer entlang führte. Ihre Mutter mußte oft hier entlang gegangen sein. Ob es für Ben wohl schwer war, nun sie statt Catherine hier zu sehen? Bisher hatte sie sich das nie gefragt, aber nach ihren vielen Gesprächen in den letzten Tagen war Miss Parker bewußt geworden, wie sehr Ben ihre Mutter noch immer vermißte.

Aber im Gegensatz zu ihr hatte er es geschafft, mit dem Schmerz zu leben, dem Leben auch wieder positive Seiten abzugewinnen. Plötzlich fiel ihr wieder etwas ein, das Ben gestern zu ihr gesagt und das sie sehr beeindruckt hatte. 'Der Schmerz über den Verlust Ihrer Mutter hat mich fast erstickt. Ich habe viel zu lange gebraucht, um festzustellen, daß sie nicht wirklich fort ist. Auch wenn ich sie nie wiedersehen werde, so bleiben mir doch immer noch die Erinnerungen an all die schönen Dinge, die wir geteilt und zusammen erlebt haben. Es mag für Sie jetzt unbegreiflich klingen, Miss Parker, aber diese Erkenntnis hat mir sehr dabei geholfen, meinem Leben wieder eine positive Richtung zu geben.'

Bens Worte gingen ihr noch immer durch den Kopf, als sie sich auf eine kleine Bank am Seeufer setzte. Urplötzlich erschien ein Bild von Tommy vor ihrem inneren Auge, aber anders als in den letzten Wochen versuchte sie nicht, es zu verscheuchen. Sie hielt es fest, erfreute sich an der Wärme, mit der es sie erfüllte. Mit einem Mal verstand sie, was Ben ihr die ganze Zeit zu sagen versuchte. Tommy würde immer ein Teil von ihr sein, weil er ihr ein einzigartiges Geschenk gemacht hatte. Durch ihn hatte sie den Teil von sich selbst wiedergefunden, den sie vor so vielen Jahren verloren hatte. Der Teil, den sie immer versteckt hatte, sogar vor sich selbst, und der sie ihrer Mutter ähnlicher machte als sie je zu hoffen gewagt hatte.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, spiegelte die Wärme wider, die sie in diesem Moment empfand. Miss Parker schloß die Augen und konzentrierte sich auf das Bild von Tommy, das ihr nun Trost spendete und sie nicht mehr mit Trauer erfüllte.

"Danke, Tommy", wisperte sie und ließ einen großen Teil des Schmerzes los. Es war noch immer schlimm für sie, daß er nicht mehr da war, aber jetzt hinderte ihr Schmerz sie nicht mehr daran, sich an der Erinnerung an Tommy zu erfreuen.

Nach einer Weile öffnete Miss Parker die Augen wieder und erhob sich. Für einen langen Moment starrte sie noch auf den See hinaus, dann machte sie sich auf den Rückweg zu Bens Pension.

Sie hatte gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt, als auf einmal ihr Handy klingelte. Überrascht zog sie es aus ihrer Tasche und aktivierte die Verbindung. Ihr Vater hatte ihr versprochen, daß sie während ihres Urlaubs ganz ungestört sein würde. Andererseits hatte sie sich bisher nie wirklich auf seine Versprechungen verlassen können, dachte sie in einem Anflug von Bitterkeit.

"Ja?" fragte sie und schüttelte leicht verärgert über sich selbst den Kopf. Es war ihr nicht einmal für eine Sekunde in den Sinn gekommen, das Telefon einfach klingeln zu lassen.

"Miss Parker?"

Broots' Stimme, und sein Tonfall weckte eine dunkle Ahnung in Miss Parker.

"Ja, ich bin's", entgegnete sie knapp. Beunruhigt runzelte sie die Stirn, als sie kurz darauf auch noch Sydneys Stimme hörte.

"Wir stören Sie wirklich nur ungern, Miss Parker, aber es ist sehr wichtig."

"Was ist los?"

"Sie müssen sofort zurück ins Centre kommen!" flüsterte Broots drängend. Sydney fügte etwas lauter, aber nicht weniger beschwörend hinzu: "Es geht um Major Charles. Und, was noch wichtiger für Sie sein dürfte, um den Mörder von Thomas Gates."

Die Neuigkeiten verschlugen ihr für ein paar Sekunden die Sprache.

"Was zum Teufel ist bei Ihnen eigentlich los?" wollte sie dann wissen, erfüllt von einer Mischung aus Verwirrung und dem Instinkt, sofort mit der Jagd nach Tommys Mörder zu beginnen.

"Wir können Ihnen übers Telefon nicht mehr sagen", erklärte Sydney. "Raines hat..."

Er unterbrach sich, und Miss Parker hörte Schritte im Hintergrund, dann Lyles unverwechselbare Stimme.

"Schon was Neues von Jarod? Mit wem telefonieren Sie da?"

"Uh – mit niemandem", sprudelte Broots hastig hervor und unterbrach dann die Verbindung. Miss Parker starrte auf ihr Handy. Auch wenn sie nur wenige Informationen hatte – sie würde auf Broots und Sydney hören. Schon allein deshalb, weil ihre Besorgnis sie dazu drängte.

Mit eiligen Schritten kehrte sie zum Haus zurück, um Ben Bescheid zu sagen und ihre wenigen Sachen zu packen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Ostvadt
Grönland
17:23

Der Schnee knisterte leise unter Jarods Stiefeln, als er in Gedanken versunken über die verlassen wirkende Hauptstraße des kleinen Ortes ging. Um diese Zeit waren die meisten Einheimischen schon zu Hause und die wenigen, die es nicht waren, beeilten sich nun, dorthin zu kommen. Ein Sturm lag in der Luft, und Jarod war sich absolut sicher, daß sie mindestens für einen Tag, wenn nicht sogar länger, von der Außenwelt abgeschnitten sein würden.

Er ging schneller, hielt direkt auf das kleine Haus zu, das ihm die Firma, für die er hier arbeitete, zur Verfügung gestellt hatte. Seine Finger schlossen sich fester um das Notizbuch, das er in der rechten Hand hielt. Trotz der dicken Handschuhe, die er trug, hatte er kaum noch Gefühl in den Fingerspitzen.

Als er hier angekommen war, hatte es ihm nichts ausgemacht, daß sein Haus etwas außerhalb lag. Doch jetzt, als er sich durch das dichte Schneetreiben kämpfte, wünschte er sich, er würde etwas näher an seinem Arbeitsplatz wohnen. Endlich erreichte er das Haus und schüttelte sich, um wenigstens einen Teil des Schnees von seiner Kleidung zu lösen. Dann schlug er die fellbesetzte Kapuze seiner dunklen Thermojacke zurück und zog widerstrebend einen seiner Handschuhe aus, um die Tür aufzuschließen.

Nach ein paar Sekunden schaffte er es, die Tür zu öffnen und hastete fröstelnd nach drinnen. Erleichtert genoß er für einen Moment die angenehme Wärme, bevor er schließlich den anderen Handschuh, seine Jacke und die Stiefel auszog. Mit dem Notizbuch in der Hand ging er in die Küche, um eine heiße Schokolade zu trinken, während er seine nächsten Schritte überdachte.

Ein paar Minuten später saß er am Küchentisch, versunken in seine Gedanken. Bisher hatte er weder eine Spur von seinem Vater noch von dem Klon gefunden, obwohl er seit seiner erneuten Flucht aus dem Centre unermüdlich nach den beiden gesucht hatte. Jarod war deswegen ziemlich beunruhigt. Bestimmt versuchte sein Vater ebenfalls, ihn zu finden, doch trotzdem hatten sie bis jetzt noch nichts voneinander gehört. Aber wahrscheinlich glaubte Major Charles, daß Jarod noch immer im Centre gefangen gehalten wurde; und natürlich war es für ihn im Moment unmöglich, auch nur in die Nähe des Centres zu kommen.

Mit einem lautlosen Seufzen wandte sich Jarod dem Notizbuch zu, das vor ihm auf dem Tisch lag. Vor ein paar Tagen war er bei seinen Nachforschungen zufällig auf etwas gestoßen, das sein Interesse geweckt hatte. Trotz seines Wunsches, so bald wie möglich seinen Vater wiederzusehen, hatte er sich entschlossen, sich der Sache anzunehmen.

Er schlug das Buch auf, überflog die drei Zeitungsartikel, die er hineingeklebt hatte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war lange her, seit er so ein Notizbuch angelegt hatte. Nur einen Herzschlag später wurde er wieder ernst, als er erneut den letzten Artikel las. Darin ging es um eine Ölfirma, die nur etwa zwei Meilen entfernt von der Stadt ein neues Vorkommen entdeckt hatte. Nach mehreren Untersuchungen durch örtliche Behörden war schließlich eine Bohrgenehmigung erteilt worden. Doch kurz nach Beginn der Arbeiten waren mehrere Männer unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, und Jarod war hergekommen, um herauszufinden, was hier passiert war.

Er hatte sich von der Firma als Umweltexperte engagieren lassen. Gemeinsam mit dem Sicherheitsexperten hatte er dann die ganze häßliche Geschichte aufgedeckt. Bei dem Gedanken an die Kaltblütigkeit der Morde verzog Jarod verärgert das Gesicht. Trotz allem, was er bisher erlebt hatte und trotz seiner Fähigkeiten als Pretender war er doch nicht in der Lage, so etwas nachzuvollziehen.

Gewaltsam verdrängte er diesen Gedanken, starrte statt dessen auf das Notizbuch herab. Was sollte er damit machen? Noch vor einem Jahr hätte er sich das nicht gefragt. Vor einem Jahr hätte er es zurückgelassen, als ein 'Geschenk' für Miss Parker, als kleine Erinnerung daran, daß das Centre nicht länger sein Leben kontrollierte.

Miss Parker.

Sein schlechtes Gewissen plagte ihn noch immer wegen ihr. Er würde alles dafür geben, die Worte zurückzunehmen, die sie so sehr verletzt hatten, und von denen er fürchtete, daß sie in Zukunft mehr als alles andere zwischen ihnen stehen würden. Und dann der Kuß. Den Kuß wollte er nicht rückgängig machen, wenigstens nicht den zweiten. Was den ersten anging, war er sich da nicht so sicher.

Ein leises Piepsen unterbrach seine Grübeleien. Für einen Moment sah sich Jarod verwirrt um, dann identifizierte er das Geräusch. Er stand auf, um nach seinem Laptop zu sehen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Das Centre
Blue Cove, Delaware
18:07

Obwohl sie eine lange Fahrt hinter sich hatte, war Miss Parker direkt zum Centre gefahren. In Gedanken war sie noch immer in Maine, voller Bedauern darüber, daß sie nicht mehr Zeit mit Ben hatte verbringen können.

Entschlossen schüttelte sie diese Überlegungen für den Moment ab und versuchte statt dessen, sich auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Vage Aufregung vibrierte in ihr, als sie daran dachte, daß sie nun vielleicht zum ersten Mal eine Spur von Tommys Mörder gefunden hatte. Irritiert nahm sie zur Kenntnis, daß auch Sorge um Major Charles sie erfüllte. Eigentlich sollte er für sie doch völlig nebensächlich sein.

Sie legte die letzten Meter zum Technikraum zurück, gespannt auf die Neuigkeiten, die Sydney und Broots für sie haben mochten.

Als sie den kleinen Raum betrat, stellte sie erleichtert fest, daß sowohl Sydney als auch Broots dort waren. Beide Männer drehten sich zu ihr um, als sie sie kommen hörten. Auf Sydneys Gesicht lag ein besorgter Ausdruck, während Broots einfach nur übernächtigt aussah.

"Gut, daß Sie da sind, Miss Parker", sagte Sydney, aber es klang eher düster als wirklich erfreut. Miss Parker runzelte die Stirn. Die gedrückte Stimmung in diesem Zimmer war fast greifbar.

"Was ist los?" fragte sie daher nur knapp.

Broots griff nach einer DSA-Diskette und hielt sie hoch.

"Das hier sollten Sie sich lieber ansehen", erklärte er mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme.

Obwohl die Geheimniskrämerei der beiden sie reizte, ließ sich Miss Parker wortlos auf einen Stuhl sinken, den Blick erwartungsvoll auf den Bildschirm gerichtet, der neben Broots stand. Der Techniker legte die Diskette in das Abspielgerät, und kurz darauf wurde der Bildschirm hell. Gespannt beugte sich Miss Parker vor, vergaß für den Augenblick Sydney und Broots.

Raines tauchte auf dem Bildschirm auf. Er saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem zwei dicke Aktenmappen lagen. Sein Blick reichte ins Leere, bis nach ein paar Sekunden ein Klopfen zu hören war.

"Herein", sagte Raines leise, weniger keuchend als gewöhnlich. 'Vermutlich strengt es ihn nicht so sehr an, einfach nur dazusitzen', überlegte Miss Parker, und verzog noch während dieses Gedankens das Gesicht. Verdammt, wenn es nach ihr ginge, könnte Raines jederzeit ganz mit dem Atmen aufhören. Sie konzentrierte sich wieder auf die Ereignisse auf dem Bildschirm.

Jemand hatte das Büro betreten, war aber außerhalb des Erfassungsbereichs der Kamera stehengeblieben. Die Kamera! Erst jetzt fiel Miss Parker auf, was ihr schon von Anfang an so seltsam an diesem Video vorgekommen war. Raines' Büro wurde mit Sicherheit nicht von Kameras überwacht – und selbst wenn das doch der Fall sein sollte, gab es garantiert keine Möglichkeit, an die Bänder heranzukommen. Außerdem stimmte der Winkel der Kamera nicht. Miss Parker hatte lange genug in der Sicherheitsabteilung gearbeitet, um das zu erkennen.

Mit einiger Mühe schob sie ihre Beobachtungen zur Seite, um das Gespräch zwischen Raines und seinem Besucher zu verfolgen.
"Sie wollten mich sprechen, Mr. Raines?" sagte der Unbekannte gerade. Seine Stimme kam Miss Parker vage bekannt vor. Wahrscheinlich handelte es sich um einen von Raines' Sweepern.

"Ich dachte, ich hätte mich in Bezug auf Ihren Auftrag klar genug ausgedrückt", erwiderte Raines mit einiger Schärfe, ohne auf die Äußerung seines unsichtbaren Besuchers einzugehen.

"Es haben sich unerwartete Probleme ergeben."

"Erzählen Sie mir nichts von Problemen!" fuhr Raines auf, diesmal mit einem deutlich hörbaren, rasselnden Atemgeräusch. "Wenn Sie nicht bald einen Erfolg zu vermelden haben, werde ich Ihr Problem für Sie lösen, und zwar endgültig."

"Ich verstehe", antwortete Raines' Gegenüber erstaunlich ruhig. Zwar stieß Raines häufiger solche Drohungen aus, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Leuten machte er sie wahr, wann immer er konnte. Wenn man für Raines arbeitete, gehörte das zum Berufsrisiko.

"Das will ich hoffen", sagte Raines grimmig. "Jetzt zu dem anderen Grund, aus dem ich Sie sprechen wollte. Nachdem sich das Thomas Gates Problem für uns erledigt hat", Miss Parker zuckte unwillkürlich zusammen und fühlte heiße Wut in sich aufwallen, als sie die Kälte und Gleichgültigkeit in Raines' Stimme hörte, "müssen Sie diese Papiere an einen sicheren Ort bringen. Sollten sie in die falschen Hände geraten, könnten sich dadurch unangenehme Konsequenzen für uns ergeben."

Raines schob einen der beiden Aktenordner ein Stück von sich weg und deutete dann auf den anderen.

"Was Major Charles angeht – es ist alles für seinen kleinen 'Unfall' arrangiert. In 72 Stunden wird unser jüngstes Projekt wieder sicher in der Obhut des Centres sein."

Der zufriedene Tonfall in Raines' Stimme widerte Miss Parker an. Erst langsam wurde ihr die volle Bedeutung seiner Worte bewußt. Offenbar schwebte Jarods Vater in höchster Gefahr. Fast gegen ihren Willen spürte sie Sorge um ihn in sich aufsteigen. Verärgert bemühte sie sich, diese Emotion zu unterdrücken. Schließlich war das hier die Chance, auf die sie so lange gewartet hatte – die Chance, endlich Tommys Mörder zu finden.

"Das Triumvirat wird sicher hocherfreut sein, das zu hören", ließ sich Raines' Gesprächspartner vernehmen. Erstaunt sah Miss Parker, wie Raines beinahe unmerklich zusammenzuckte, als das Triumvirat erwähnt wurde. Sehr interessant. Vermutlich hatte er einiges zu hören bekommen, als Jarod ein weiteres Mal die Flucht aus dem Centre gelungen war. Ganz offenbar war Raines doch nicht so unbeteiligt, wie er sich meistens gab.

"Zweifelsohne", entgegnete Raines kurzangebunden, während er sich langsam erhob. Er nahm die beiden Aktenstapel und reichte sie seinem Besucher. Miss Parker unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte gehofft, wenigstens einen kurzen Blick auf den Unbekannten erhaschen zu können.

"Machen Sie sich jetzt an die Arbeit", wies Raines den anderen Mann an, der daraufhin das Büro zu verlassen schien. Raines kehrte mit schweren, schleppenden Schritten zu seinem Schreibtisch zurück. Der Bildschirm wurde wieder dunkel.

In einer schnellen Bewegung stand Miss Parker auf. Binnen weniger Minuten im Centre war all die Anspannung zurückgekehrt, die während ihres kurzen Urlaubs von ihr abgefallen war. Ihre Schulter schmerzte wieder leicht, aber sie ignorierte den Schmerz. Leider gelang ihr das nicht halb so gut mit dem emotionalen Schmerz, den Raines Worte in ihr ausgelöst hatten.

"Miss Parker...", begann Sydney, aber sie unterbrach ihn scharf.

"Wo zum Teufel ist das hergekommen?"

Broots sah sie mit deutlichem Unbehagen an.

"Wir sind uns nicht ganz sicher."

Miss Parkers Augen verengten sich, aber sie zwang sich, nicht über Broots herzufallen. Schließlich versuchte er nur, ihr zu helfen.

"Ich will wissen, woher diese Aufzeichnung stammt", sagte sie in einem leisen, ruhigen Tonfall. Alle Farbe wich aus Broots Gesicht.

"Von irgendwem hier aus dem Centre", erwiderte er tonlos, offenbar in sein unvermeidliches Schicksal ergeben.

"Was soll das heißen? Ich brauche einen Namen, Broots."

"Es tut mir leid, Miss Parker, ich habe getan, was ich konnte, aber..."

"Miss Parker, hören Sie", begann Sydney noch einmal. Sein ruhiger Tonfall erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie sah ihn an. Ihre Blicke trafen sich, und ihr wurde klar, daß sie sich beruhigen mußte, wenn sie irgendwelche Ergebnisse erzielen wollte. Sie nickte stumm, dann wandte sie sich von den beiden Männern ab und entfernte sich ein paar Schritte von ihnen.

Mit geschlossenen Augen atmete sie ein paarmal tief durch, erinnerte sich an die Erkenntnisse, die sie in Maine gewonnen hatte. Tommy hätte nicht gewollt, daß sie sich von ihrem Wunsch nach Rache treiben ließ. Dadurch verlor sie womöglich das, was sie durch ihn erst wiedergewonnen hatte. Zwei verschiedene Wünsche rangen in ihr um die Vorherrschaft, und schließlich traf Miss Parker eine Entscheidung.

Sie öffnete die Augen wieder und kehrte zu Broots und Sydney zurück.

"Also schön, mir ist klar, daß Sie mich nicht hierher gerufen haben, damit ich kopflos hinter Tommys Mörder herjage. Ich glaube vielmehr, daß Sie darauf gehofft haben, daß ich mich um Jarods Vater kümmere. Und versuchen Sie gar nicht erst, das abzustreiten", sagte sie mit einem schnellen Seitenblick zu Sydney, der den Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen. Ein Blick in seine Augen verriet ihr, daß sie mit ihrer Vermutung durchaus richtig lag. Er schloß den Mund wieder, die Andeutung eines Lächelns in den Augen. Miss Parker holte tief Luft.

"Möglicherweise haben Sie damit recht", fuhr sie fort und bemühte sich zu überhören, wie Broots überrascht nach Luft schnappte. "Damit will ich nicht sagen, daß ich Tommys Mörder nicht mehr schnappen will. Aber das wird warten müssen. Jarods Vater ist noch am Leben – für ihn können wir also noch etwas tun." Sie machte eine kurze Pause und wandte sich dann an Broots. "Sagen Sie mir, was Sie wissen."

Broots zögerte nur kurz.

"Jemand aus dem Centre hat uns dieses Band zugespielt – viel mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen."

"Großartig", seufzte sie. "Diese Aufzeichnung könnte genauso gut eine Falle von Raines sein, um uns von etwas abzulenken, das er vorhat – oder um uns einfach nur loszuwerden."

"Miss Parker, das ist ziemlich paranoid", meldete sich Sydney zu Wort. "Ich glaube nicht, daß Raines so vorgehen würde. Außerdem wissen wir, daß schon früher jemand aus dem Centre Informationen nach draußen weitergegeben hat, wenn auch vorwiegend an Jarod. Wir sind uns wohl alle einig, daß niemand von uns dafür verantwortlich war."

Miss Parker zog spöttisch eine Augenbraue nach oben und sah Sydney an. Sie alle hatten am einen oder anderen Punkt mit Jarod zusammengearbeitet, aber Sydney war mit Sicherheit derjenige von ihnen, der Jarod mit den meisten Informationen versorgt hatte. In einem Anflug von Großzügigkeit beschloß sie, seine Äußerung einfach hinzunehmen.

"Vergessen wir für einen Moment das Wer. Von wann stammt diese Aufnahme? Raines hat von 72 Stunden gesprochen."

Broots reichte ihr wortlos einen kleinen, flachen Gegenstand.

"Das ist die Hülle, in der wir die Diskette gefunden haben", erklärte er. Miss Parker las die Zahlen, die jemand fein säuberlich in Druckbuchstaben auf die Hülle geschrieben hatte.

"Gestern abend", sagte sie nachdenklich. "Das läßt uns noch etwa zwei Tage Zeit."

"Ich könnte die Schrift analysieren lassen", schlug Broots vor, aber Miss Parker schüttelte den Kopf.

"Dauert zu lange. Außerdem sind Druckbuchstaben nie sehr aufschlußreich." Plötzlich fiel ihr etwas ein, das Jarod zu ihr gesagt hatte. Angelo hatte ihn mit Informationen versorgt, nachdem man ihn wieder ins Centre gebracht hatte. Natürlich! Der Empath war nicht nur Jarods Freund, er besaß außerdem noch die Kenntnisse und die Ausrüstung, um Jarod diese Informationen zu schicken. Aber warum hatte er ihnen ebenfalls eine Kopie überlassen? Wieder keimten Zweifel in Miss Parker. Falls Jarod dieses Band ebenfalls hatte, würde er sich um Major Charles kümmern. Dann konnte sie die Spur von Tommys Mörder verfolgen.

"Möglicherweise weiß ich, woher die Aufzeichnung stammt. Ich bin gleich wieder da."

"Was haben Sie vor, Miss Parker?"

Sie ignorierte Sydneys Frage und verließ mit raschen Schritten den Technikraum.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Ostvadt
Grönland
18:17

"Verdammt!"

Jarod starrte frustriert auf den Bildschirm. Seit fast einer Stunde versuchte er jetzt schon, eine stabile Verbindung zum Centre herzustellen. Der Sturm hatte an Intensität noch weiter zugenommen und störte die Leitungen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ganz zusammenbrechen würden.

"Komm schon", wisperte Jarod drängend. "Nur ein paar Minuten, länger brauche ich nicht."

Konzentriert versuchte er, wenigstens Teile der Datei zu retten, die Angelo ihm zu schicken versuchte. Wenn er sie jetzt nicht bekam, würde er warten müssen, bis der Sturm vorüber war, und das hieß mindestens ein bis zwei Tage.

Nach einer weiteren Viertelstunde mußte er hilflos mitansehen, wie die Leitung endgültig zusammenbrach. Großartig. Was auch immer Angelo ihm hatte mitteilen wollen, war jetzt für die nächsten Tage unerreichbar für ihn.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Das Centre
Blue Cove, Delaware
18:49

Angelos Zimmer war beinahe dunkel, wurde nur erhellt vom trüben Licht mehrerer Computerbildschirme. Miss Parker blieb in der Tür stehen und klopfte nach einem kurzen Zögern leise an den Rahmen. Sie wollte nicht einfach so in Angelos Reich platzen.

Er drehte sich zu ihr um, und für einen Moment ließ das seltsame Licht sein Gesicht fast unheimlich aussehen. Dann wandte er sich wieder einem der Bildschirme zu, während er rasch mehrere Befehle eintippte.

Miss Parker ging langsam zu ihm und stellte sich hinter ihn.

"Hallo, Angelo", sagte sie leise.

Angelo tippte noch für einen Moment weiter, dann hörte er plötzlich auf und drehte sich wieder zu ihr um.

"Miss Parker muß helfen", erklärte er fest.

"Hast Du Sydney und Broots das Video gegeben?" fragte sie ihn ruhig, fast sanft.

"Jarod kann nicht helfen", sagte Angelo kummervoll. "Miss Parker muß helfen."

Sie seufzte.

"Du weißt, daß ich Tommys Mörder um jeden Preis finden will."

Ein Lächeln huschte über Angelos Gesicht.

"Nicht um jeden Preis."

Miss Parker sah ihn verblüfft an. Konnte er ihre Gefühle jetzt auch schon erkennen, ohne sie zu berühren? Reichte es, daß sie in seiner Nähe war? Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

"Wieso kann Jarod nicht helfen?" erkundigte sie sich.

Angelo warf einen besorgten Blick auf seine Computer.

"Keine Verbindung mehr", klagte er.

"Also bleibe nur ich übrig, um etwas für Jarods Vater zu tun", murmelte Miss Parker mehr zu sich selbst. "Weißt Du, wo die Akten sind, die wir im Video gesehen haben? Gibt es Kopien?" fragte sie dann etwas lauter.

Für einen Moment blieb Angelo regungslos sitzen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als würde er auf etwas lauschen, das nur er hören konnte. Dann stand er so plötzlich auf, daß Miss Parker hastig zur Seite wich. Angelo ging in eine Ecke des Zimmers und wühlte in einem riesigen Papierhaufen. Nach einer Weile zog er eine verknitterte Akte hervor. Er kam zurück und reichte sie ihr.

Miss Parker hielt kurz den Atem an, als sie den Aktendeckel öffnete und die ersten Worte las. Enttäuscht ließ sie ihren Atem wieder entweichen. Sie sah zu Angelo auf.

"Was ist mit der anderen Akte? Die über Tommys Mörder?"

Angelo schüttelte nur bedauernd den Kopf.

"Verdammt!" fluchte Miss Parker leise. Dann fragte sie sich, ob Angelo die Akte nicht hatte, oder ob er sie ihr nicht geben wollte, weil er befürchtete, daß sie dann Jarods Vater nicht mehr helfen würde. Nach einem Blick in sein Gesicht verwarf sie die zweite Möglichkeit wieder. Angelo würde so etwas einfach nicht tun.

"Miss Parker muß helfen", sagte Angelo nun schon zum dritten Mal.

"Ich werde helfen", entgegnete sie leise und ließ sich auf einen Stuhl sinken, um die Akte zu lesen. "Ich werde helfen."

aaaaaaaaaaaaaaaa

Ostvadt
Grönland
19:25

Obwohl er wußte, daß es sinnlos war, griff Jarod nach seinem Handy. Was auch immer im Centre vor sich ging, mußte schon sehr wichtig sein, wenn Angelo ihn deswegen kontaktieren wollte.

Er wählte Sydneys Nummer und wartete angespannt. Schon nach wenigen Sekunden hörte er die unvermeidliche Nachricht.

"Eine Verbindung zu dem von Ihnen angewählten Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht möglich. Bitte versuchen Sie es später noch einmal."
Jarod unterbrach die Verbindung. Was, wenn es kein Später für ihn gab?

aaaaaaaaaaaaaaaa

Das Centre
Blue Cove, Delaware
19:37

"Wo sind Sie denn so lange gewesen?"

Sydneys Frage schaffte es nicht, Miss Parker aus der Ruhe zu bringen, als sie in den Technikraum zurückkehrte. Sie erwiderte seinen Blick und zuckte mit den Schultern. Mit langen Schritten ging sie hinüber zu Broots und ließ die Akte vor ihm auf den Tisch fallen.

"Bei unserem Informanten", antwortete sie schließlich.

"W-was ist das?" fragte Broots nervös.

"Lesen Sie's", erwiderte Miss Parker ungeduldig. Sie setzte sich auf einen Stuhl und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

"Miss Parker?"

Als sie aufsah, stand Sydney neben ihr und musterte sie besorgt.

"Wie kommt es, daß Raines weiß, wo Major Charles sich befindet, während wir ständig nur im Dunkeln tappen?" platzte es entnervt aus ihr heraus. "Wieso habe ich das Gefühl, daß er alle Fäden in der Hand hält und wir nur wie Marionetten herumtanzen?"

"Es geht hier gar nicht um Raines", sagte Sydney sanft. "Sie sind wütend wegen dem, was Sie über Thomas herausgefunden haben."

"Da haben Sie verdammt recht!" antwortete sie verärgert. Sie holte tief Luft, bevor sie etwas ruhiger weitersprach. "Warum zum Teufel muß Raines ausgerechnet jetzt etwas wegen Major Charles unternehmen? Ich könnte..."

"Miss Parker, Sie können nicht beide Sachen auf einmal lösen", fiel ihr Sydney ruhig ins Wort. "Ich weiß, wie wichtig es Ihnen ist, Thomas' Mörder zu finden. Broots und ich können allein versuchen, uns um Major Charles zu kümmern."

Für eine Sekunde, nur für einen kurzen Augenblick, zog sie sein Angebot wirklich in Erwägung, doch dann schüttelte sie ablehnend den Kopf.

"Vergessen Sie's, Syd. Wenn wir in dieser Sache nicht zusammenarbeiten, kommen wir nirgendwo hin."

Sie stand auf, bevor er noch etwas sagen konnte.

"Lokalisieren Sie Major Charles, Broots. Finden Sie heraus, was genau Raines geplant hat."

Broots hob den Blick kurz von der Akte, um sie anzusehen. Er nickte.

"Nach dem, was hier drin steht, haben wir weniger als 48 Stunden, um Major Charles zu warnen. Ich sage Ihnen sofort Bescheid, wenn ich etwas herausfinde."

Miss Parker nickte nur, dann entfernte sie sich ein paar Schritte von den beiden Männern. Unschlüssig, was sie als nächstes unternehmen sollte, blieb sie schließlich stehen. Sie spürte mehr als daß sie hörte, wie Sydney von hinten an sie herantrat. Beinahe zögernd drehte sie sich zu ihm um.

"Was ist nur mit mir los, Syd?" fragte sie ihn leise. "Ich sollte schon längst da draußen sein, mit keinem anderen Ziel als Tommys Mörder zu finden. Statt dessen stehe ich hier und mache mir Sorgen um einen Mann, den ich kaum kenne und von dem ich bis vor kurzem noch dachte, daß er meine Mutter getötet hat."

Sydney legte ihr eine Hand auf die Schulter, strich dann beruhigend über ihren Arm.

"Sie tun das Richtige, Miss Parker", versicherte er ihr. "Tommy hätte es auch so gewollt, da bin ich mir sicher."

"Wahrscheinlich", wisperte sie. Sie brauchte seine tröstende Berührung mehr, als ihr lieb war. Nur deshalb zog sie sich nicht von ihm zurück, obwohl alles in ihr danach schrie. "Ich weiß nicht mehr, was ich fühlen soll."

Erst jetzt trat sie einen Schritt von Sydney zurück und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er blieb stehen und beobachtete sie, ohne etwas zu sagen. Miss Parker hatte das Gefühl, daß er auf irgend etwas wartete.

"Alle Leute verhalten sich plötzlich so merkwürdig", fuhr sie fort. Dann lachte sie leise auf. "Und dann diese Sache mit Jarod. Wie konnte ich nur zulassen, daß er mich küßt? Und das zweimal?"

Broots richtete sich so plötzlich auf seinem Stuhl auf, daß er beinahe umgefallen wäre. Mit großen Augen starrte er Miss Parker an, den Mund ungläubig geöffnet.

"Er hat... Sie haben...", stammelte er, offenbar völlig ahnungslos, in welch gefährliches Gebiet er sich gerade vorgewagt hatte. Miss Parkers Augen verengten sich.

"Sagen Sie bloß nicht, daß Sie das Überwachungsband noch nicht gesehen haben."

Sydney räusperte sich.

"Uhm, ich bin mir ziemlich sicher, daß sich alle existierenden Kopien in meinem Besitz befinden", erklärte er dann vorsichtig. Diese Aussage rückte ihn ins Zentrum von Miss Parkers Aufmerksamkeit. Sie fixierte ihn mit ihrem eisblauen Blick.

"Glauben Sie nicht, daß das etwas ist, was Sie mir hätten sagen sollen?" fragte sie dann.

"Sie wissen es jetzt. Und bei unserem Gespräch in meinem Büro schien es Ihnen egal zu sein", entgegnete er gelassen. Miss Parker nickte langsam, dann wandte sie sich wieder Broots zu, der sie noch immer staunend anstarrte.

"Major Charles, Broots. Erinnern Sie sich?"

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Broots auf ihre Worte reagierte.

"Hat er Sie wirklich...", begann er, dann klappte er erschrocken den Mund zu, als wäre ihm erst jetzt klar geworden, mit wem er gerade redete. Er schüttelte kurz den Kopf, bevor er noch einmal anfing. "Major Charles, ja. Alles klar. Bin schon dabei."

Der Techniker wandte sich wieder seinem Bildschirm zu, aber ein paar Sekunden später murmelte er etwas, das für Miss Parker verdächtig nach 'Wow, und er ist trotzdem noch am Leben' klang.

"Miss Parker?"

Mit den Gedanken noch immer bei Broots, drehte sie sich wieder zu Sydney um.

"Hm?"

"Wieso fahren Sie nicht nach Hause und versuchen, sich ein bißchen zu entspannen? Wir benachrichtigen Sie, sobald wir etwas erfahren."
Sie erwiderte seinen Blick ein paar Sekunden lang, bevor sie nachgab. Sydney hatte recht; sie konnte wirklich etwas Ruhe gebrauchen.

"Na schön. Falls Sie vorher nichts finden, komme ich morgen früh wieder."

Mit einem letzten nachdenklichen Blick zu Broots verließ sie den Technikraum.

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Ostvadt
Grönland
02:31

Jarod drehte sich in seinem Bett unruhig von einer Seite auf die andere. Der Wind heulte noch immer unerbittlich um sein Haus, erinnerte ihn ständig daran, daß der Sturm noch immer nicht nachgelassen hatte.

Schon seit Stunden lag er wach, tat nichts anderes als zu Grübeln. Sein Gefühl sagte ihm, daß irgend etwas nicht stimmte, und seine Vorstellungskraft lieferte ihm mehr als genug Gründe für dieses Gefühl.

Mit einem Seufzen drehte sich Jarod auf die andere Seite, starrte auf die Digitalanzeige seines Weckers. Im schwachen Licht der Leuchtziffern sah er sein Handy, das ebenfalls auf dem Nachttisch lag. Im Moment konnte er nicht einmal jemanden anrufen.

Erst nach einer ganzen Minute, in der er blicklos auf die Uhrzeit gestarrt hatte, gestand er sich ein, daß nicht Sydney derjenige gewesen wäre, den er angerufen hätte. Und ganz egal, wie sehr er sich auch fragte, was im Moment im Centre vor sich ging, hätte er auch nicht Angelo angerufen. Nein, es war eine ganz andere Person, die er mitten in der Nacht mit seinem Anruf aus dem Schlaf gerissen hätte.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Miss Parkers Haus
431 Mountain Spring Road
Blue Cove, Delaware
05:17

Das Klingeln ihres Telefons zerrte Miss Parker erbarmungslos aus den angenehmen Tiefen ihres Schlafes. Verwirrt blinzelte sie ein paarmal, bevor ihr klar wurde, was die Quelle des störenden Geräusches war. Nach einem Blick auf ihren Wecker griff sie nach dem Telefon.

"Was?" fragte sie, deutlich weniger scharf als sie eigentlich geplant hatte.

"Miss Parker, hier spricht Sydney. Broots hat eine vielversprechende Spur von Major Charles gefunden. Sie sollten so bald wie möglich herkommen."

"Bin schon auf dem Weg", erwiderte sie und unterdrückte ein Gähnen. Sie legte auf und ließ ihren Kopf zurück aufs Kissen sinken. Das waren genau die Nachrichten auf die sie gewartet hatte. Warum war sie dann trotzdem enttäuscht?

Miss Parker schloß die Augen, als sie sich die Antwort eingestand. Weil sie erwartet hatte, daß Jarod sie anrufen würde. Genauso, wie er es schon oft mitten in der Nacht getan hatte. Waren diese Zeiten jetzt vorbei, da er ihr seine Freundschaft angeboten hatte?

Oh, großartig. Jetzt vermißte sie schon seine Anrufe. Mit einem Seufzen stand sie auf und beschloß, für den Rest des Tages nicht mehr über Jarod nachzudenken.

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Das Centre
Blue Cove, Delaware
5:37

"Also, was gibt's?"

Miss Parker hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, als sie in den Technikraum zurückkehrte. Broots drehte sich nur kurz zu ihr um, aber Sydney kam ihr entgegen.

"Haben Sie gut geschlafen?" erkundigte er sich.

Ihr lag eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber nach einem Blick in Sydneys besorgtes Gesicht nickte sie nur. Dann ging sie an ihm vorbei zu Broots.

"Was haben Sie rausgefunden?"

Der Techniker richtete sich auf und versuchte, seine vom langen Sitzen verspannten Muskeln etwas zu lockern. Hatte er am vergangenen Tag noch übernächtigt ausgesehen, so war jetzt verheerend die passende Beschreibung für sein Aussehen.

"Sydney und ich sind zusammen die Akte durchgegangen, die Sie mitgebracht haben. Wir haben uns gefragt, wie Raines Major Charles in eine Falle locken will."

Miss Parker hob fragend die Brauen, sagte aber nichts. Ihr fiel auf, daß Broots ununterbrochen mit den Füßen wippte. Offenbar hatte er in den letzten Stunden soviel Kaffee getrunken, daß er nun nicht mehr stillsitzen konnte.

"Jarods Mutter", erklärte Broots triumphierend, als wäre es die logischste Sache der Welt. "Für Major Charles muß es so aussehen, als wäre sie in der Gewalt des Centres."

"Na gut, wir wissen also, wie Raines ihn in seine Falle locken will. Bleibt nur noch das Wo."

"Alaska", sagte Sydney plötzlich neben ihr. Sie schaffte es, nicht überrascht zusammenzuzucken, ganz im Gegensatz zu Broots, der beinahe das Gleichgewicht verlor. Miss Parker runzelte die Stirn über diese Beobachtung, dann erst begriff sie, was Sydney gerade gesagt hatte.

"Alaska?" wiederholte sie.

"Claremont, Alaska", bestätigte Sydney.

"Wundervoll. Das bedeutet zehn Grad minus, an einem guten Tag. Wieso sucht Raines sich ständig Eiswüsten aus? Was ist so falsch an Hawaii?"

Sydney warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, den Miss Parker ungerührt zurückgab.

"Erzählen Sie mir einfach die Details. Ich werde alleine fliegen. Sie müssen mir hier den Rücken freihalten. Das letzte, was ich da oben brauche, sind Raines oder Lyle, die mir dazwischenfunken." Miss Parker starrte düster ins Leere. "Und Broots?"

"Ja?" Der Techniker zuckte erneut zusammen.

"Sobald ich weg bin, versuchen Sie, etwas zu schlafen. Sie sehen furchtbar aus. Wenn ich in Alaska ankomme, will ich, daß Sie mir hier zur Verfügung stehen, und zwar ausgeschlafen, klar?"

"Ja, Miss Parker."

Broots machte nicht mal den Versuch, ihr zu widersprechen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Sydney versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, allerdings nicht ganz erfolgreich.

"Wir sollten so wenig Zeit wie möglich verschwenden, daher schlage ich vor, daß Sie mir jetzt ausnahmslos alles erzählen, was Sie wissen."
Broots öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber bevor er dazu kam, fügte Miss Parker düster hinzu: "Und damit meine ich nur über Major Charles' geplanten Unfall."

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Ostvadt
Grönland
13:17

Das Heulen des Windes hatte endlich nachgelassen. Der Sturm hatte sich gelegt, und nur der leichte Schneefall erinnerte noch an das schlechte Wetter der vergangenen Stunden.

Jarod saß auf der Couch in seinem Wohnzimmer und starrte gebannt auf den Bildschirm seines Laptops. Er konnte kaum fassen, was er dort sah. Vor einer Viertelstunde hatte er endlich die Datei von Angelo erhalten, und nun sah er sich das Video bereits zum zweiten Mal an.

Entsetzt lehnte er sich zurück, als der Bildschirm dunkel wurde. Eine Mischung aus Sorge um seinen Vater und Wut auf Raines erfüllte ihn, hinderte ihn daran, einen klaren Gedanken zu fassen.

Wie konnte Raines es wagen?

Jarod stand auf und begann, unruhig durch das Wohnzimmer zu laufen. Er mußte unbedingt etwas tun, um seinen Vater zu warnen. Aber was?

Nach ein paar Sekunden kehrte er zu seinem Computer zurück. Außer der Videodatei, die Angelo ihm gesendet hatte, hatte er auch noch eine Textdatei sowie eine kurze Mail von Angelo erhalten.

Zuerst überflog er die Textdatei. Anscheinend handelte es sich dabei um eine Zusammenfassung einer der beiden Akten, die im Video zu sehen gewesen waren. Die Akte über seinen Vater. Unwillkürlich fragte sich Jarod, ob Angelo wohl auch im Besitz der anderen Akte war. Nur einen Augenblick später galt seine Aufmerksamkeit bereits wieder seinem Vater.

Jarod öffnete Angelos Mail und hielt den Atem an, als er die wenigen Worte las.

'Vater ist in Gefahr. Miss Parker hilft. –C.J.'

Ungläubig schüttelte Jarod den Kopf. Wieso in aller Welt sollte Miss Parker es vorziehen, seinem Vater zu helfen, wenn sie statt dessen endlich ein Spur zu Tommys Mörder verfolgen könnte? Eine Sekunde später traf ihn die Antwort wie ein Blitz. Weil Angelo sie darum gebeten haben mußte. Außer ihm selbst war sie die einzige Person auf der Welt, von der Major Charles Hilfe erwarten durfte. Und Angelo hatte ihn nicht erreichen können.

Jarod wurde von einem unguten Gefühl erfaßt. Plötzlich war es nicht mehr nur sein Vater, um den er sich sorgte.

Mit hastigen Schritten verließ er das Wohnzimmer, um seine wenigen Sachen zusammenzupacken. Im Laufen aktivierte er sein Handy und fluchte leise, als er noch immer keine Verbindung nach draußen herstellen konnte. Plötzlich blieb er stehen und starrte auf das Telefon in seiner Hand. Er hatte versucht, Miss Parker zu erreichen. Wenn sie schon auf dem Weg war, um seinen Vater zu warnen, war es gut möglich, daß er sie deshalb nicht erreichen konnte.

Jarod wählte eine andere Nummer, wartete ein paar Sekunden und seufzte erleichtert, als sich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung meldete.

"Hier spricht Sydney."

"Sydney, wo ist Miss Parker? Ich muß unbedingt mit ihr sprechen."

"Jarod?"

Er konnte deutlich die Überraschung in der Stimme des älteren Mannes hören und schloß für einen Moment schuldbewußt die Augen, als er an den Schmerz dachte, den sein Verhalten bei Sydney verursacht haben mußte.

"Ja, Sydney, ich bin's. Wo ist sie?"

"Miss Parker ist auf dem Weg nach Alaska. Wir haben erfahren, daß Raines deinem Vater eine Falle..."
"Verdammt!" fluchte Jarod. "Ihr müßt sie zurückrufen."

"Du weißt schon Bescheid?"

Wieder klang Sydney überrascht, vielleicht sogar noch mehr als zuvor.

"Ich habe das Video gesehen", erklärte Jarod ungeduldig. "Du mußt Miss Parker sagen, daß sie sofort ins Centre zurückkehren soll."

Jarod hörte, wie Sydney kurz zögerte.

"Warum?"

"Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Mein Vater versteckt sich seit Jahrzehnten vor dem Centre. Er kennt Raines' Tricks. Wahrscheinlich hat er Raines' Falle schon längst erkannt und wird dort überhaupt nicht auftauchen."

"Was macht dich da so sicher?"

"Ich bin nicht sicher, aber ich will nicht, daß Miss Parker deswegen ihr Leben riskiert. Diese Sache ist sehr gefährlich. Raines will den Jungen wiederhaben, und er will Major Charles tot sehen. Deshalb ist das, was er in Alaska für meinen Vater vorbereitet hat, mit Sicherheit eine ernstzunehmende Bedrohung. Bei allem, was Miss Parker in letzter Zeit durchgemacht hat, ist sie vermutlich nicht dazu in der Lage, allein damit fertigzuwerden."

Am anderen Ende der Leitung atmete Sydney hörbar ein.

"Wir können sie nicht erreichen, Jarod. Sie ist mit dem Jet aufgebrochen. Als ich das letzte Mal mit ihr telefoniert habe, ist die Verbindung abgebrochen – der Jet muß in eine Schlechtwetterfront geraten sein. Und nach dem, was ich aus dem Wetterbericht entnommen habe, wird sie da so schnell nicht wieder herauskommen."

"Dann mache ich mich besser gleich auf den Weg. Vielleicht kann ich das Schlimmste noch verhindern. Ich melde mich bald wieder, Sydney."

Jarod unterbrach die Verbindung und begann damit, seine wenigen Besitztümer einzupacken. Hoffentlich kam er nicht zu spät.

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Devil's Ridge
Alaska
17:45

Miss Parker stampfte mit den Füßen auf und verlagerte immer wieder ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, während sie in der schneidenden Kälte wartete. Trotz ihrer warmen Fellkapuze, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte, fühlten sich ihre Ohren bereits taub an.

Entnervt hämmerte sie erneut an die verschlossene Tür. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, daß der Tanz der Schneeflocken um sie herum immer dichter wurde. Wundervoll. Sie sah nach oben in den Himmel und runzelte die Stirn, als sie die dichte, graue Wolkendecke sah, die nur von einem kündete. Noch mehr Schnee.

"Aufmachen!" rief Miss Parker wütend und hieb mit der Faust so fest gegen die Tür, daß ihre Hand trotz des Handschuhs schmerzte.

"Verdammte Kälte", fluchte sie leise vor sich hin. "Wenn ich wieder zurück im Centre bin, sorge ich persönlich dafür, daß Raines den Rest seines Lebens in einem Gefrierschrank verbringt."

"Kann ich Ihnen helfen, Miss?"

Überrascht hob sie den Blick und stellte fest, daß sich die Tür vor ihr einen winzigen Spalt breit geöffnet hatte. Ein großer, verschlafen wirkender Mann sah auf sie herab, die Brauen hochgezogen.

"Allerdings. Ich brauche einen Mietwagen, und zwar so schnell wie möglich."

Der Mann starrte sie ein paar Sekunden lang an, dann begann er zu lachen. Es war ein gutmütiges Lachen, aber Miss Parker war trotzdem nicht in der Stimmung dafür, es zu tolerieren. Ihre Miene verdüsterte sich bedrohlich.

"Dürfte ich vielleicht erfahren, was daran so komisch ist?" fragte sie mühsam beherrscht. Sie spürte, wie die Kälte langsam durch ihre Thermokleidung kroch und schaffte es nur mit Mühe, ihr Zittern zu unterdrücken.

Erst jetzt schien ihr Gegenüber zu begreifen, daß sie es ernst meinte.

"Sie können doch bei dem Wetter unmöglich mit dem Auto fahren", erklärte er bestimmt und schüttelte den Kopf. "Wer hat Sie überhaupt zu mir geschickt?"

"Jemand vom Flughafen", erwiderte sie kurzangebunden. "Mit dem Jet bin ich nicht weiter als bis hierher gekommen, also muß ich jetzt mit dem Wagen bis nach Claremont fahren."

"Bis nach Claremont?" fragte der Mann und pfiff durch die Zähne. "Das sind noch gute 200 Meilen. Tut mir leid, Miss, aber bei dem Wetter kann ich das unmöglich verantworten."

Miss Parker war kurz davor, die letzten Reste ihrer Selbstbeherrschung zu verlieren.

"Jetzt hören Sie mir mal zu! Ich bin nicht zum Vergnügen hier. Ich brauche diesen Wagen, und ich werde..."

"Tut mir wirklich leid, Miss", unterbrach sie der Mann. "Aber bevor das Wetter sich nicht gebessert hat, kann ich Ihnen keinen Wagen geben." Er warf ihr noch einen letzten bedauernden Blick zu, dann schloß er die Tür wieder. Ein paar Sekunden lang starrte sie fassungslos auf das glatte Holz. Dann hob sie die Faust, um erneut zu klopfen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, um ihre Hand schließlich wieder nach unten sinken zu lassen.

"Mistkerl", sagte sie leise, nicht wirklich wütend auf ihn. Eine alles überwältigende Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus. Was, wenn sie es nicht rechtzeitig nach Claremont schaffte? Wenn Major Charles starb, weil sie in irgend einem gottverlassenen Provinznest festsaß? Was sollte sie Jarod sagen? Miss Parker sah erneut nach oben in den trüben Himmel. Die Entschlossenheit kehrte langsam in ihr Gesicht zurück.

"Ich gebe nicht auf", wisperte sie, den Kopf in den Nacken gelegt. "Ich werde mich nicht aufhalten lassen."

Ihre leisen Worte hingen wie eine Drohung in der Luft, als Miss Parker sich umdrehte und den kurzen Weg zurück zum Flugplatz stapfte.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Irgendwo über dem Atlantik
22:43

In der Passagierkabine des kleinen zweimotorigen Flugzeugs war es fast dunkel. Die meisten Passagiere schliefen; nur zwei oder drei hatten noch das kleine Leselicht über ihrem Sitz an.

Jarod starrte aus dem Fenster. Der Mond hing fast zum Greifen nah am Himmel, tauchte das Wasser tief unter dem Flugzeug in silbriges Licht. Hin und wieder waren kleinere Wolkenfelder zu sehen – Vorboten auf das schlechte Wetter, das sie in Alaska zweifellos erwartete.

Nach einer endlos scheinenden Weile schloß Jarod die Augen. Es würde noch Stunden dauern, bevor sie Alaska erreichten, und bereit jetzt schaffte er es kaum noch, seine Besorgnis unter Kontrolle zu halten.

Mittlerweile war er sich fast sicher, daß Major Charles die Falle als solche durchschaut hatte. Wahrscheinlich würde er nicht einmal in die Nähe von Claremont kommen, allein schon deshalb, um den Klon zu beschützen.

Viel mehr Sorgen machte er sich um Miss Parker. Bei ihrem letzten Treffen in Ben Millers Haus war ihm aufgefallen, wie erschöpft sie gewirkt hatte. Und das nicht nur im physischen Sinne, sondern vor allem emotional. Sie war im Moment einfach nicht in der Lage, es mit Raines aufzunehmen.

Jarod öffnete die Augen wieder und stand auf. Er ging an seinem schlafenden Sitznachbarn vorbei in Richtung Cockpit, um sich bei dem Piloten nach der aktuellen Wetterlage zu erkundigen. Alles war besser als einfach nur tatenlos dazusitzen.

aaaaaaaaaaaaaaaa

Claremont
Alaska
15:27

Strahlender Sonnenschein verwandelte die schneebedeckte Landschaft in ein Meer aus Gold und Kristall. Miss Parker stand vor dem Bahnhof und sah sich suchend um. Für die Schönheit ihrer Umgebung hatte sie keinen Blick. Im Moment beschäftigte sie allein die Frage, wie sie am schnellsten zum Hafen gelangen konnte.

Sie griff in ihre Jackentasche und zog ihr Handy hervor. Mit einer Grimasse zog sie einen ihrer Handschuhe aus und drückte eine der Kurzwahltasten. Wie schon bei ihren vorherigen Versuchen mußte sie feststellen, daß sie das Centre noch immer nicht erreichen konnte. Frustriert verstaute sie ihr Telefon wieder in der Tasche.

Aus der anderen Tasche holte sie einen zerknitterten Zettel und ein Foto hervor. Das Foto war eine aktuelle Aufnahme von Major Charles; ihre einzige Chance, ihn hier ausfindig zu machen, bevor er in Raines' Falle tappte.

Auf den Zettel hatte Broots für sie alle wichtigen Informationen geschrieben, für den Fall, daß sie aus irgend einem Grund keinen Kontakt zu ihm oder Sydney aufnehmen konnte. Miss Parker dankte ihm stumm für seine Voraussicht, als sie erneut einen Blick auf die Adresse warf. Schließlich steckte sie den Zettel zurück in die Tasche und ging zur anderen Straßenseite, wo mehrere Taxis warteten.

"Zu den Docks", sagte sie zu einem der Fahrer und ließ sich erschöpft auf den Rücksitz sinken. Die Nacht und den größten Teil dieses Tages hatte sie in einem Zug verbracht – der letzte, der gestern von Devil's Ridge aus hierher gefahren war. Obwohl die Strecke relativ kurz gewesen war, hatte die Fahrt mehr als zwanzig Stunden gedauert. Offenbar war aufgrund des schlechten Wetters ein Teil der Strecke unpassierbar gewesen, deshalb hatten sie mehrere Stunden lang mitten im Nirgendwo gestanden.

"Sind Sie schon mal in Claremont gewesen, Miss?" erkundigte sich der Fahrer höflich. Miss Parker blinzelte. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, und das letzte, was sie jetzt wollte, war mit einem Wildfremden über irgend welche Belanglosigkeiten zu plaudern.

"Nein", erwiderte sie düster. "Und ich habe auch nicht vor, jemals wieder herzukommen."

Damit war das Thema für sie erledigt. Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Miss Parker lehnte sich zurück, bemüht, sich ein wenig zu entspannen. Als sie nach ein paar Minuten die Docks erreichten, schoß sie auf einmal in die Höhe.

"Sofort anhalten!" wies sie den Fahrer an.

"Wie bitte?" erkundigte er sich überrascht.

"Ich habe gesagt, Sie sollen anhalten!" wiederholte Miss Parker verärgert. Er kam ihrer Aufforderung nach, warf ihr aber einen merkwürdigen Blick zu.

"Wollen Sie aussteigen? Wir sind noch nicht..."

"Ja, ja, schon gut. Hier, behalten Sie den Rest."

Miss Parker hielt ihm einen Geldschein hin und stieg aus. Sie ging ein paar Meter zurück und erstarrte. Tatsächlich, sie hatte sich nicht geirrt. Auf der anderen Straßenseite, keine fünfzig Meter entfernt, parkte ein dunkler Wagen.

Normalerweise hätte sie ihre Reaktion selbst als paranoid bezeichnet, aber ihr Instinkt sagte ihr, daß dieses Auto etwas mit dem Centre zu tun hatte. Nachdem sie noch ein wenig näher herangegangen war, konnte sie das Nummernschild erkennen. Kein Zweifel, dieser Wagen gehörte zum Centre. Aber was machte er hier?

Als sich eine der Türen öffnete, beeilte sich Miss Parker, in Deckung zu gehen. Wen auch immer das Centre geschickt hatte, um Raines' Plan auszuführen, sie konnte darauf verzichten, von ihm entdeckt zu werden. Ein Mann stieg aus und sah sich interessiert um. Miss Parker hielt den Atem an. Lyle.

Natürlich. Wer sonst wäre besser geeignet gewesen, um Major Charles' Ermordung zu überwachen. Sie verspürte einen Stich der Enttäuschung. Bedeutete das, daß ihr Vater auch etwas mit der Sache zu tun hatte?

Sie schüttelte den Kopf, um sich von diesem Gedanken zu lösen. Major Charles zu finden hatte im Moment die absolute Priorität. Vorsichtig verließ sie ihre Deckung und ging weiter in Richtung Docks.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie die Straße entdeckte, die laut ihrem Zettel zu der Lagerhalle führte, in der Raines seine Falle zuschnappen lassen wollte. Die Straße führte von den Docks fort, endete bei einer Halle, die auf einem freien, schneebedeckten Feld stand.

Auf dem Weg dorthin hielt Miss Parker mehrere Dockarbeiter an und zeigte ihnen das Foto von Major Charles. Keiner von ihnen hatte Jarods Vater gesehen. Miss Parker empfand Erleichterung. Wenn er bis jetzt noch nicht hier gewesen war, mußte sie nur in der Nähe der Halle auf ihn warten.

Die letzten Meter zu dem baufällig wirkenden Gebäude legte sie beinahe widerstrebend zurück. Sie hatte ein ungutes Gefühl, unterdrückte es aber. Der Schnee knirschte bei jedem ihrer Schritte; das Geräusch kam ihr unnatürlich laut vor. Auch die Kälte schien plötzlich beißender zu sein als noch vor ein paar Minuten. Mit jedem ihrer Schritte wurde sie langsamer, bis sie schließlich dicht neben der Halle stehenblieb. Etwas stimmte nicht. Aber was?

Plötzlich wußte sie es. Sie wußte, wie Raines Major Charles aus dem Weg schaffen wollte. Miss Parker fuhr herum und rannte los. Sie rannte schneller als je zuvor in ihrem Leben, versuchte, die eiskalte Luft zu ignorieren, die jeden Atemzug zur Qual machte. Sie rannte, obwohl sie wußte, daß sie es niemals rechtzeitig schaffen konnte.

Als das Gebäude hinter ihr explodierte, dehnte sich jede Sekunde zu einer Ewigkeit. Zuerst spürte sie die Hitze, die von einem Augenblick zum anderen die eisige Kälte ersetzte. Nur einen Herzschlag später hörte sie den ohrenbetäubenden Knall der Explosion, mit dem die Struktur der Halle auseinanderbarst. Überall um sie herum zischte es leise und dampfte, als geschmolzener Stahl in den Schnee regnete.

Schließlich erreichte sie die Druckwelle der Explosion. Miss Parker hatte das Gefühl, von einer riesigen Faust gepackt zu werden, die ihr die Luft aus den Lungen preßte. Hitze hüllte sie ein, und die Landschaft begann, vor ihren Augen zu verschwimmen.

Die Wucht der Explosion schleuderte Miss Parker zu Boden. Ihr Gesicht sank tief in den herrlich kalten Schnee. Die Kälte milderte den Schock des Aufpralls ein wenig, ließ sie noch einmal den Kopf heben.

Ein dunkler Fleck bewegte sich schnell auf sie zu, kam immer näher. Verwirrt kniff sie die Augen zusammen, konnte aber trotzdem nur einen undeutlichen Schemen erkennen.

"Miss Parker!"

Das war Jarods Stimme. Aber Jarod konnte unmöglich hier sein. Sie versuchte, sich wieder aufzurichten. Heißer Schmerz zuckte durch ihren Körper, ließ sie wieder zu Boden sinken. Miss Parker stöhnte schmerzerfüllt auf.

"Parker, du mußt aufstehen!" brüllte Jarod über das Kreischen der Flammen hinweg. Verständnislos dachte sie über seine Worte nach, aber ihre Reflexe reagierten bereits auf seinen drängenden Tonfall. Trotz ihrer Schmerzen richtete sie sich auf, bis sie schließlich schwankend und schweratmend wieder auf den Füßen stand. Jarod hatte sie fast erreicht, und Miss Parker konnte die Angst erkennen, die seine Züge verzerrte. Noch immer verwirrt starrte sie ihm entgegen. Sein Gesichtsausdruck wirkte beinahe schon panisch...

Die zweite Druckwelle traf Miss Parker völlig unvorbereitet. Schmerz explodierte in ihrem Kopf und ihrer Schulter. Plötzlich hörte sie nur noch das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren. Alles um sie herum wurde weiß, als wäre die Welt mit blendender Helligkeit erfüllt.

"PARKER!"

Jarods Schrei vermischte sich mit dem Dröhnen in ihren Ohren, als sie wie in Zeitlupe nach vorne sank. Sie spürte, wie sie gegen etwas prallte, und dann schlossen sich Jarods starke Arme um ihren kraftlosen Körper.

"Parker."

Entsetzen und Angst ließen Jarods Stimme vibrieren. Gemeinsam mit ihm sank sie langsam zu Boden.

"Sag etwas, Parker. Bitte."

Miss Parker öffnete den Mund, aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie fand nicht einmal die Kraft, die Augen zu öffnen, um Jarod anzusehen. Jedes Gefühl wich aus ihrem Körper, bis sie nur noch Jarods Arme um sich spürte. Er zog sie an sich und hielt sie fest, wisperte drängend auf sie ein. Obwohl sie sich bemühte, sich an seiner Stimme festzuhalten, konnte sie nicht verhindern, daß sich die Helligkeit um sie herum langsam in Dunkelheit verwandelte. Das letzte, was sie spürte, bevor sie bewußtlos wurde, war die sanfte Berührung von Jarods Lippen auf ihrer Stirn.


Ende von Teil 2









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