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Die meisten Figuren dieser Geschichte gehören nicht mir, wem auch immer,mir nicht! Die anderen, die mir gehören, gehören mir ganz allein! DieseGeschichte wurde geschrieben, weil ich gerne schreibe, nicht weil ich damit Geld verdienen will!



Die vergessene Akte
Teil 9
von Dara




Tapp, tapp. Sam schrak von ihrem unruhigen Schlaf auf. Irritiert sah sie sich um. Sie war nicht im Centre. Mühsam blinzelte sie in das Licht. Sie rieb sich ihre Augen und gähnte.

Tapp, Tapp. Wieder dieses eigenartige Geräusch. Sam glitt leise aus dem Bett. Sie schlich sich zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Sie erspähte noch den Umriß einer kleinen Gestalt, die vom Dachboden ins Kinderzimmer schlüpfte. Ein Rascheln folgte.

"Was heckt ihr Banausen eigentlich wieder aus?" knurrte Sam müde. Sie blinzelte heftig. Gerade, als sie sich wieder hinlegen wollte, kam Kay aus dem Kinderzimmer geschlichen und tapste wieder zurück auf den Dachboden. Sie hatte keine Schuhe an oder Socken, nur mit ihrem Nachtanzug war sie bekleidet. Sam murmelte etwas und ging leise zum Kinderzimmer. Es war leer. Keines der drei Kinder lag in seinem Bett.

"Verdammte Brut!" Sam war ein ausgesprochener Morgenmuffel und haßte es, früh aufzustehen. Sie schnappte sich die erstbesten Pantoffeln, die ihr im Wege lagen und machte sich auf den Weg zum Dachboden.

***

"Du mußt den roten Draht doch haben, ich hab ihn dir eben gerade in die Hand gedrückt!" Kay zischte Jack leise an. Sie hockten auf den Bodenplatten, um sich herum eine Vielzahl von Drähten, Mikrochips, Schrauben und anderen Dingen verstreut. Jay sah sich suchend um. Er pickte eine Rolle aus dem Müll.

"Ich hab ihn!" Er hob ihn triumphierend in die Luft. Kay riß ihn ihm ungeduldig aus der Hand.

"Wir müssen endlich fertig werden, bald werden die anderen wach!"

"Das, meine Herrschaften, ist bereits eingetreten!" Sams laute Stimme durchbrach das Geflüster. Die Kinder schraken zusammen.

"Mensch, hast du mich erschreckt!" jauchzte Jack.

"Was zum Teufel macht ihr hier oben, jeder normale Mensch liegt um diese Uhrzeit im Bett! Und wenn ihr schon hier hoch müßt, um diese zum himmelschreiende Zeit, dann zieht euch gefälligst was Warmes an!" donnerte Sam ungerührt. Sie schmiß Kay die Hausschuhe vor die Füße und versuchte gar nicht erst, ihre schlechte Laune zu verstecken. Jay machte ein ganz unglückliches Gesicht. Er war solche Ausbrüche nicht gewohnt. Die anderen beiden hingegen schienen sich nichts daraus zu machen.

Jack runzelte die Stirn. "Du solltest Dich wieder hinlegen, Mum. Sonst hast du den ganzen Tag schlechte Laune!"

Sam starrte ihn an. Sie wollte etwas erwidern, überlegte es sich jedoch anders. Statt dessen deutete sie auf das halbfertige Gerät in der Mitte: "Was wird das, wenn es fertig ist?"

"So was Ähnliches wie ein Modem, wir sind noch am rumbasteln!" nuschelte Jack undeutlich. Es war offensichtlich, daß er das Geheimnis nicht preisgeben wollte. Jetzt war Sam an der Reihe, die Stirn zu runzeln, aber sie hakte nicht nach. Sie war viel zu müde, um sich Gedanken über das Spielzeug ihrer Kinder zu machen.

***

"Guten Morgen!" Miss Parker nickte abgelenkt zurück. Eine Sekunde später stoppte sie abrupt. Sie sah irritiert zurück, zu dem Mann, der ihr ´Guten Morgen` gewünscht hatte.

"Lyle?" Sie wollte ihren Augen nicht trauen. Da stand ein junger Mann vor ihr. Es war definitiv Lyles Gesicht, aber irgendwas war anders. Sie musterte ihn von oben bis unten.

"Miss Parker!" Er lächelte und wollte weitergehen. Sie ergriff seinen Arm.

"Was hast du vor? Was soll dieser Aufzug?" Sie deutete auf seine Aufmachung. Er hatte eine verwaschene Jeans an, braune, abgewetzte Schuhe und zu guter letzt ein Holzfällerhemd. Seine Haare waren ein wenig durcheinander geraten. "Ist dir das Haargel ausgegangen?" fragte sie zynisch. Lyle sah sie fragend an, dann schien er die Frage verstanden zu haben. Er fuhr sich – war das Verlegenheit? - durch das braune Kurzhaar und lachte leise.

"Ach das, nein, ich mochte es einfach nicht mehr!"

"Und wo ist dein Anzug geblieben?"

"Der? Ist in der Reinigung!" Er lächelte sie noch mal an und ging dann. Parker starrte ihn verblüfft hinterher. Sydney , der soeben um die Ecke gebogen kam, folgte ihrem Blick.

"War das eben Mr. Lyle?" fragte er sie ebenso irritiert.

"Ich bin mir nicht sicher, Syd. Absolut nicht sicher!"

"Hmmmmh...", ein tiefer keuchender Atemzug. Mr. Raines kam den Gang herunter. Miss Parker verdrehte die Augen.

"Der hat mir gerade noch gefehlt."

Syd setzte sein nichtssagendstes Lächeln auf, auch er war nicht erpicht darauf mit Raines zu sprechen.

"Haben Sie irgend etwas Neues von Jarod gehört?"

Parker mußte sich stark zusammenreißen. In letzter Zeit konnte sie schon nicht mal mehr Raines Stimme ertragen, ohne daß sich ihre Hände unwillkürlich verkrampften.

"Nein, noch nichts, außer die üblichen Telefonanrufe, die uns nicht viel weiterbringen."

"Haben Sie Ihren Bruder in letzter Zeit gesehen? Er ist gestern nicht zur Arbeit erschienen."

"Lyle ist vorhin an mir vorbeigegangen. Keine Ahnung, wo er jetzt ist!"

"Wenn Sie ihn noch mal sehen, richten Sie ihm aus, daß ich mit ihm sprechen will!"

"Ich bin nicht die Post, suchen Sie sich doch einen Ihrer Kraftbolzen aus, damit der Lyle holt!" Parker wandte sich ab und ging. Sydney folgte ihr still.

"Ich hab was gefunden, Miss Parker." Broots tippte eine kurze Zahlenfolge in den PC ein, dann sah er hoch. "Also, die Datei ist schon ziemlich alt. Eine sehr eigenartige Programmiersprache, als wenn sich jemand die selbst entwickelt hätte. Ich habe ziemlich lange gebraucht, um das Prinzip zu entschlüsseln! Also, die Datei geht außerhalb des Systems. Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte irgendwo eine exakte Kopie von jeder Centredatei existieren. Jemand hat sämtliche Daten über das Centre. Und damit meine ich wirklich alle: auch die, die hier schon längst gelöscht sind. Dieses Programm formatiert eine Sicherheitskopie von jeder Datei, sobald sie geschrieben wird. Sämtliche Änderungen werden an die ursprüngliche Datei angehängt, das heißt alle Daten bleiben zugreifbar."

"Alle?"

"Alle! Aber das ist noch nicht alles! Ich habe am Ende der Datei noch einen kleinen Anhang gefunden und zwar mit einer anderen Programmiersprache!"

Parker sah Broots fragend an. "Wie darf ich das verstehen?"

"Jemand hat dieses Programm gefunden und seine eigene Signatur angehängt. Längst nicht so gut kodiert wie der erste Teil. Mit diesem Teil werden sämtliche Dateien mit einer Sicherheitsstufe über 4 kopiert und zu einer internen Adresse weitergeleitet." Wie eine Pause zur Erhöhung der dramatischen Spannung erschien das Luftholen von Broots.

"Kommen Sie schon, zu welcher Adresse gehen diese Dateien?"

"Lyles, allerdings nicht seine offizielle, sondern eine Pseudoadresse. Bobby Seven, eine Adresse eingerichtet schon vor über 15 Jahren. Erst hab ich gedacht, das ist eine Adresse, die man vergessen hat zu löschen, aber dann hab ich die Logdatei gelesen. In den letzten 3 Jahren hat sich fast wöchentlich jemand darin eingeloggt, und zwar von Mr. Lyles Büro aus!" Broots schluckte schwer.

"Jetzt wissen wir woher er die vielen Informationen hat. Aber wir wissen immer noch nicht, wer die anderen Daten bekommt."

"Vielleicht auch Lyle!" Broots zuckte mit den Schulten.

"Dann hätte er sich nicht die Mühe gemacht, den zweiten Teil der Programmierung zu schreiben! Außerdem ist es doch ein großes Risiko, gerade durch den zweiten Teil kann man ihn identifizieren."

"Also , wer immer dieses Programm geschrieben hat, war ziemlich – äh – gut !"

Parker sah ihn an. "Jarod?"

"Oder Samantha!"

Sydney wog nachdenklich den Kopf. "Jarod war es bestimmt nicht, dann hätte er ja viele der Daten, die er von uns fordert. Außerdem wüßte ich das!"

"Also dann hat Sam etwas, was für Jarod sehr wichtig ist. Wenn Jarod davon erfahren würde...." Sie sprach diesen Gedanken nicht aus, sah Sydney nur an.

***

"Guten Morgen!" Samantha gähnte und wankte unsicher in die Küche. Sie hätte noch 10 Stunden weiterschlafen können.

"Na, wie ist deine Laune jetzt?" fragte Kay vorsichtig und nagte an ihrem Toast.

"Besser als vor ein paar Stunden! Wenn ich jetzt bitte eine Schüssel Cornflakes kriegen könnte!"

Mit skeptischem Blick reichte ihr Jack eine Schüssel und die Milch. Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu seiner Schwester. Die nickte leicht.

"WAS ist?" fauchte Sam und sah die beiden ungeduldig an. "Was immer ihr ausheckt, was immer ihr bastelt, wen immer ihr ärgern wollt - SAGT endlich, was ihr wollt!"

Kay biß sich auf die Lippe. "Mum, können wir an den Computer im Keller?"

Sams Gesicht verdüsterte sich noch mehr. "Was wollt ihr da machen?"

"Ähm, das können wir dir noch nicht sagen!"

"Okay, ich will mal was klarstellen. Wenn ich euch auch nur in Richtung Keller blicken sehe, gibt’s Ärger! Ich will nicht, daß ihr dahin geht, verstanden? Solange ich nicht weiß, was ihr da ausheckt, kein Keller. Und sollte ich mir das noch anders überlegen, dann werde ich euch garantiert nicht alleine darunter gehen lassen! Gerade jetzt, wo das Centre auf uns aufmerksam geworden ist, müssen wir vorsichtiger werden."

Die beiden verzogen das Gesicht.

"Ihr könnt den PC im Truck benutzen!" lenkte Sam ein, als sie die Gesichter sah, "Der ist genauso schnell und hat ebenfalls eine hohe Speicherkapazität. Der Computer im Keller ist mit einer Daueraufgabe weitgehend ausgelastet."

Kay und Jack sahen sich an: "Der dürfte reichen!" Ihre Gesichter erhellten sich wieder. Sie wollten vom Tisch aufstehen und rausgehen, doch Sam rief sie wieder zurück: "Zuerst zieht ihr euch was anderes an, im Pyjama geht ihr mir nicht vor die Tür! Außerdem keine Verbindung mit dem Centre. Dort dürften zur Zeit sämtliche Techniker Überstunden schieben! Wir wollen doch diese Hütte nicht in die Aufmerksamkeit lenken!" Die beiden nickten kurz und rannten nach oben. Sam gähnte und schaufelte die Cornflakes herunter.

***

Jarod wachte plötzlich auf. Benommen sah er auf die Uhr. So lange hatte er schon lange nicht mehr geschlafen. Er rieb sich die Augen. Auf dem Flur konnte er Kindergetrampel hören. Er blinzelte und ging ins Bad. Mit geschlossenen Augen ließ er das Wasser über seinen Körper laufen. Warm und weich lief es seinen Rücken herunter. Gerade als er wieder aus der Dusche trat, konnte er schon wieder hören, wie jemand den Flur entlang rannte.

"Die haben es aber eilig!" murmelte er und zog sich seinen schwarzen Pullover über den Kopf. Gemächlich ging er mit seinem Laptop unterm Arm zur Küche. Dort traf er auf Samantha.

"Morgen!"

Sie knurrte nur eine kurze Antwort und konzentrierte sich wieder auf die Zeitung. Er setzte sich, nachdem er sein Laptop mit dem Telefon verbunden hatte. Während er frühstückte, surfte er im Internet. Er stutzte und murmelte etwas.

"Was ist los?" Sam sah auf.

"Ich brauche nicht mehr in den Süden, das hat sich von alleine geregelt!" antwortete er nachdenklich. Jarod holte Luft und las laut vor "...Im Fall der elf-jährigen Fatima Skymal, die vor einem Monat vergewaltigt und verstümmelt wurde, hat sich gestern eine dramatische Wende ereignet. Wie wir in den vergangenen Wochen berichteten, hatte die Polizei den Vater des Mädchens der Tat bezichtigt und eingesperrt. Gestern hat die Polizei am späten Nachmittag nun einen Arbeitskollegen von Mohammed Skymal verhaftet. Wie der Polizeisprecher verlauten ließ, konnte die Polizei dank eines anonymen Informanten die wahren Ereignisse rekonstruieren. Der unbekannte Informant hatte per Email eine detaillierte Beweisführung gegen Aron Packard geschickt. Laut einem Insiderinformanten unseres Reporters vermutet die Polizei, daß ein Privatdetektiv in der Sache ermittelt hat, aber nicht erkannt werden will. Die Familie der kleinen Fatima ist wieder glücklich vereint und der Vater sagte in einem kurzem Interview: ‘Wir haben diesem Unbekannten soviel zu verdanken. Niemand hat mehr geglaubt, daß ich unschuldig war, und meine Fatima kann nun endlich wieder sicher sein.‘ Als weiteres Wunder kann vermerkt werden, daß jemand 50.000$ auf das Spendenkonto überwiesen hat, daß die lokalen Sender eingerichtet hatten, für die Wiederherstellung von Fatimas Gesicht, das bei dem Überfall so schrecklich entstellt wurde..."

Jarod zeigte Sam zwei Fotos, eins von der Familie, und ein Foto des Mädchens mit verschiedenen Narben im Gesicht.

"Tja, da hat wohl jemand deine Anwesenheit unnötig gemacht!" Sam grinste.

"Ich glaube es einfach nicht, die haben sich einfach mein Buch geschnappt und haben die Informationen..."

"Laß den Kindern doch den Spaß, solange der Job gemacht wird..." Sam winkte kurz ab. Jarod zögerte kurz und nickte dann. Er trank etwas Kaffee und checkte seinen Mailbox.

***

"Ich hab’s!" Kay schrie laut auf. "Gott, ich hab sie! Ahhhhh! Ich bin so gut!" sie tanzte überschwenglich herum. Jack steckte seinen Kopf in die kleine Kabine.

"Was schreist du denn so?"

"Ich hab es!" sie sah ihn an und zog eine Grimasse. Jacks Augen wurden größer, und er umarmte sie überschwenglich. Zusammen hüpften sie in der kleinen Kabine auf und ab.

"Sie hat es, sie hat es. Wir haben es, wir haben es!"

Jay stand in der Tür, er sah stark irritiert auf das Verhalten der anderen beiden.

"Komm her Jay, wir haben es." Kay winkte ihn zu sich und dann hüpften sie zu dritt.

"Und was genau habt ihr?"

"Na, das, was wir gesucht haben! Was wir jetzt schon seit 3 Tagen suchen!" Jay hatte immer noch keinen blassen Schimmer.

"Ihr habt meine Familie gefunden?" Kay hörte auf zu hüpfen.

"NA, so ungefähr! Kommt, ich zeig es euch!"

***

"Was Neues, Broots?" Parker setzte sich auf den Tisch.

"Nicht direkt!" Er sah sie an: "Keine Nachricht von Jarod oder Samantha. Keine Pakete oder so was in der Art. Angelo hat sich seit Tagen nicht mehr blicken lassen, und mit der Datei komm ich einfach nicht weiter!" Er seufzte resigniert.

"Sie sollten einfach mal nach Hause fahren, Broots. Ein Wochenende kann das Centre auch mal auf sich allein aufpassen. Debbie wird sich freuen, wenn sie mal wieder ein paar Tage mit ihrem Daddy verbringen kann." Parker massierte sich den Nacken.

"Was werden Sie tun, dieses Wochenende?"

"Ich werde mal mein zu Hause ein bißchen auf Vordermann bringen!"

Broots erhob sich schwer aus seinem Stuhl. "Ich gehe dann mal!"

"Schönes Wochenende, Broots, und grüßen Sie Debbie von mir!"

In Dr. Greenes Büro war auch noch Licht. Parker richtete sich auf und ging auf das Licht zu.

"Syd, Sie sind ja auch noch hier!"

"Ich muß noch ein paar Akten bearbeiten, Parker!" Der Psychiater sah von seinem Schreibtisch auf.

"Haben Sie dieses Wochenende was Besonderes vor?"

"Ich wollte Michelle besuchen und Nick. Wollen Sie mitkommen?"

"Nein, Familienwochenenden gehören der Familie. Hat sich Jarod inzwischen mal wieder gemeldet?"

"Nein, kein Anruf seit dem Tag, als Sam verschwunden ist. Ich wünschte, er würde sich regelmäßig melden."

"Keine Sorge, die Laborratte wird sich schon wieder melden, wenn ihr der Sinn danach steht", grinste Parker sarkastisch. Allerdings war sie auch ein wenig beunruhigt. Er war mit Sam unterwegs, das hatte sie im Gefühl. Warum meldeten sie sich nicht? Sie vermißte die nächtlichen Anrufe von Jarod. Was, wenn sich doch was zwischen Sam und.... Parker schüttelte irritiert den Kopf. Das ging sie doch gar nichts an, warum hackte sie bloß auf diesem Thema immer wieder rum? Energisch wischte sie diesen Gedanken weg und machte sich auf in ihr Büro. Nur noch ihre Tasche und ihre Jacke holen und dann konnte sie dem Centre für zwei Tage den Rücken kehren.

"Miss Parker, guten Abend!" Lyle lächelte, als er an ihr vorbei ging. Sie stutzte. Er rannte ja immer noch in diesem Aufzug durch die Gegend. Sie sah ihm nachdenklich hinterher, dann ging sie kurz entschlossen hinter ihm her. Sie hatte sich jetzt lange genug an der Nase herumführen lassen. Was immer dieser Bastard vorhatte, er würde es ihr jetzt sagen.

"Okay Lyle, ich will jetzt endlich wissen, was ...?" weiter kam Parker nicht, dann sah sie die Änderungen in Lyles Büro. Da waren Pflanzen im ganzen Zimmer. Kakteen standen am Fenster, eine große Palme in der Ecke. Das kalte Bild, das in jedem Büro des Centres hing, hatte jemand mit der Darstellung eines jungen Mädchens vertauscht. Parker sah genauer hin. Das war Samantha; sie hatte ein weißes Kleid an und ihre Haare wehten im Wind.

"Ich hab es malen lassen. Es ist wunderschön, nicht wahr?" Lyle trat aus seiner Toilette. Jedes Büro der Führungskräfte hatte ein eigenes Bad.

"Bist du ins Toilettenbecken gefallen?" fragte Parker zynisch. Ihr war schon ein wenig eigenartig zumute. Als ob Lyle total auf Sam fixiert war.

Lyle grinste scheu - das war doch scheu, oder? - und antwortete: "Ich hab mir nur die Haare naß gemacht, ich war gerade in der Sporthalle und hatte etwas trainiert!"

Wahrscheinlich stimmte das sogar. Parker sah ihn an. Er hatte wieder die alte Jeans an und ein Sporthemd. Um den Nacken hatte er ein kleines Handtuch geschlungen.

"Hat Raines was Besonderes von dir gewollt?"

"Ach, die Flasche wollte sich nur wieder wichtig machen!" winkte Lyle ab. Parker stutzte. Der Ton, die Haltung, einfach alles an Lyle stimmte nicht. Hatte er Raines eben als Flasche bezeichnet? So hatte Sam ihn doch immer genannt. 'Mit der Flasche arbeite ich nicht', das waren ihre Worte gewesen. Was ging hier vor? Sie musterte ihn noch mal genau.

Er sah sie fragend an: "Wollten Sie was Bestimmtes?"

"Ich wollte eigentlich nichts sagen, aber... Was immer du vorhast, Lyle, wen immer du täuschen willst, du solltest verdammt vorsichtig sein!" Sie hatte sich auf seinen Tisch gestützt und sich zu ihm gebeugt, als sie das sagte.

Er sah ihr in die Augen und kam ihr noch näher: "Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich nicht immer mit Lyle anzusprechen? Mein Name ist Bobby!" Parker sagte nichts, sie starrte ihn nur an. Dann setzte sie sich vorsichtig in den Sessel, der für Gäste gedacht war.

"Ich hoffe, das bindest du nicht jedem auf die Nase!" Er sah sie fragend an. In Parkers Gehirn überschlugen sich die Gedanken. Sie überlegte krampfhaft. "Es ist für uns alle viel einfacher und auch ungefährlicher, wenn du diese Identitätskrise für dich behältst."

"Wie soll ich denn das verstehen? Ich habe nach Jahren endlich geschafft, wieder klar im Kopf zu werden und dann soll ich vorgeben, ich wäre immer noch Lyle?"

Parker schüttelte den Kopf. "Ich glaube einfach nicht, das ich das jetzt tun werde", murmelte sie vor sich hin. Dann stand sie auf und ging zu Lyles Platz. Sie setzte sich vor ihm auf den Tisch: "Paß mal auf, Bruderherz. Und denk ja nicht, das tue ich, weil ich dich leiden kann! Ich bin dir nur ungern etwas schuldig. Also an deiner Stelle würde ich niemanden zeigen, wer du bist. Diese Bobby-Geschichte wird dich nicht nur einen Daumen kosten, sondern wenn’s ganz schlimm kommt, dein Leben. Also wenn du nicht so wie alle anderen Laborratten des Centres enden willst, solltest du weiter so tun, als wärst du Lyle. Ich meine, damit bist du doch die letzten Jahre gut über die Runden gekommen!"

"Ich..."

"Hör gut zu, sollte Raines rauskriegen, daß sein kleiner Psychopath nicht mehr richtig funktioniert, wird er, nur aus Langeweile, dich wieder in sein Programm integrieren. Und das willst du doch sicher nicht, oder?"

Bobby/Lyle überlegte kurz. Er starrte auf das Bild. Parker beobachtete ihn fasziniert; das war wirklich nicht Lyle. Schließlich sah er sie an: "Heißt das, ich muß so wie du – er hatte jetzt das Sie wieder gewechselt – alles tun, worauf ich absolut keinen Bock habe? Und dieses absolut dämliche Spiel mitspielen?"

"Um mal eins klar zustellen, ich bin nicht wie du! Und zweitens muß ich darauf hinweisen, daß, falls du es vergessen hast, du dieses Spiel doch mit einer besonderen Vorliebe spielst!" Parker stand auf und ging zur Tür. Sie drehte sich noch mal um und sagte mit Nachdruck: "Ein schönes Wochenende, Lyle. Und komm mir nicht in die Quere!"

Bobby starrte auf die schwingende Tür. Nach einer Minute raffte er seine Sachen zusammen und eilte zu seinem Wagen. Er mußte nachdenken.

***

"WAS?" Parker blinzelte mit verschlafenen Augen auf die Uhr. Ein Uhr dreiundvierzig. "Wehe das ist nicht wichtig!"

"Aber, aber. Ich wollte doch nur mal hören, wie es meinem Lieblingsjäger so geht."

"Jarod!"

"Parker?"

"Du nervst!" sie mußte grinsen. Gott, sie hatte diese Anrufe zu lieben gelernt. Irgendwie schien er immer zu wissen, wann sie einen Alptraum hatte.

"Soll ich wieder auflegen?"

"Nein, jetzt bin ich wach!" Sie setzte sich auf.

"Wie geht es dir, Parker?"

"Kann nicht klagen, danke!" Sie zog ihre Bettdeck höher und stellte sich vor, wie er gerade aussah. "Und selbst? Wo bist du gerade?" fragte sie so unauffällig und beiläufig wie möglich.

"Netter Versuch, Parker. Wenn ich auch schon bessere von dir kenne!"

"Ich bin zu müde, um diese Spielchen auf einem so hohen Level zu spielen." Sie gähnte ins Telefon.

"Ich sag dann mal Tschüß, damit du wieder schlafen kannst!"

"Warte, ich hab eine Frage an dich!" Sie schloß die Augen, sie sah ihn vor sich, mit dem Telefon ans Ohr gedrückt. Sie konnte ihn atmen hören.

"Parker? Na los, frag schon, ich hab nicht ewig Zeit!"

"Was passiert, wenn man eine Simulation nicht mehr abbrechen kann?" Am anderen Ende war es ganz still. "Hallo, bist Du noch dran? Jarod?" Dann hörte sie etwas klicken. Verdammt, dieses Telefon war verwanzt. Sie wollte gerade was sagen, als Jarod auflegte. Sie sah auf die Uhr, das Gespräch hatte nicht länger als 2 Minuten gedauert. Ob sie diese Telefonate zurückverfolgen konnten? Es klingelte wieder. Miss Parker starrte auf den Hörer, den sie immer noch in den Händen hielt. Das Handy! Sie sah sich suchend um, bis es ihr wieder einfiel. Es lag in der Wohnstube. Sie eilte hinunter.

"Parker!" sie keuchte vor Anstrengung. "Jarod?"

Keine Antwort.

"Ich wußte nicht, daß sie die Telefone abhören. Ich..."

"Warum hast du mir diese Frage gestellt, Parker?" Sie atmete erleichtert aus.

"Sie interessierte mich nur!"

"Frag doch Sydney?"

"Du hast aber nun mal eben angerufen und nicht Sydney!" schnappte sie zurück. "Was für ein Problem ist es eigentlich, mir diese Frage zu beantworten?"

"Kein Problem, Parker. Du hast mich nur neugierig gemacht." Miss Parker ließ sich auf das Sofa fallen.

"Und?"

"Du hast mich nie gefragt, wie es ist, eine Simulation zu machen. Was interessiert es dich jetzt?"

"Vergiß es, ich werde..."

"Parker, ich sag es dir ja schon!" Jarod klang amüsiert. "Eine Simulation ist, als ob man mit dem Feuer spielt. Man sammelt sämtliche Informationen über jemanden und versetzt sich dann in denjenigen hinein. Man versucht die Gedankengänge des Objektes zu erfassen und zu verstehen und dann übernimmt man sie. Man schaltet sich selbst aus, man wird zu dem anderen. Manchmal wird es schwer, diese fremden Gedanken wieder auszugrenzen. Wenn man das nicht schafft, wird man zu der anderen Person und verliert sich selbst. Das ist ziemlich gefährlich."

"Ist das bei jeder Simulation gleich?"

"Ich sollte mich mal in die Psyche eines Psychopathen versetzten, aber ich konnte nicht, ich hatte zuviel Angst. Gerade bei Leuten, die zwanghaft handeln, wird es sehr schwer, wieder zu sich selber zu finden. Da ist es gut, wenn ein Mentor dabei ist und dich mit gezielten Fragen wieder zurückholt." Miss Parker schluckte schwer. Sie hatte früher diesen Teil immer ausgeklammert. Sie wollte nie wissen, wie es ist, Laborratte zu sein. Wahrscheinlich hatte sie schon immer gewußt, daß es dann immer schwerer sein würde, ihn fangen zu wollen.

"Parker?"

"Danke, Jarod! Schlaf gut!" Sie legte auf.

***

Er sah sich seine Wohnung an. Alle Sachen waren wild auf dem Fußboden verteilt, und eine zwei Tage alte Pizza lag auf dem Stubentisch. Er fuhr sich durch die Haare. Er konnte nicht wieder zurück zu Lyle, das ging nicht. Aber wie sollte er es schaffen, als Lyle durchzukommen? Ring, Ring.

Das Telefon, wo war dieses dumme Telefon? Er ging zu einem Haufen Hemden und kramte blind drin herum, dann hatte er es.

"Ja?"

"Hallo, Bobby." Eine bekannte Stimme war zu hören. Er lächelte und setzte sich auf den Fußboden.

"Hallo Sam!" Eine Pause folgte.

"Was ist los, hat es dir die Sprache verschlagen? Keine Ausfragerei, wo ich stecke? Keine Drohung, daß ich wieder zurückkommen muß? Verfolgst du meinen Anruf zurück und willst mich solange hinhalten?" Ihre Stimme war ungeduldig. Bobby legte sich auf den Fußboden und starrte die Decke an.

"Wie bin ich so, Sam?"

"Kalt, gewissenlos, machthungrig, kontrollsüchtig, ekelhaft. Wem immer du auch begegnest, du setzt ein schmieriges, falsches Lächeln auf und drohst den Leuten. Du wolltest doch die Beschreibung von Lyle, richtig?"

Er grinste: "Und weiter?"

"Du kannst deine schmierigen Griffel einfach nicht von Brigitte lassen; wahrscheinlich bist du sogar der Papi vom zukünftigen Brüderchen. Auf Daddy hast du noch nie gehört und spekulierst wahrscheinlich auf seinen Stuhl. Und Raines, nun ja, wie kann man Raines denn schon behandeln!" Er konnte richtig hören, wie sie sich vor Ekel schüttelte. "Ach, und du bist unmöglich zu Angelo, und deine Schwester treibst du zur Weißglut!"

"Nein, was bin ich für ein Prachtbursche!" grinste er ironisch.

"Weißt du jetzt, wer du wirklich bist, Honey?"

"Vielleicht, aber so wie es aussieht, wird doch eher der andere überleben müssen."

"Ach, mach es wie die Schauspieler, zieh ihn an wie ein Kostüm, der echte bleibt darunter verborgen, bis das Stück zu Ende ist!"

"Paß auf dich auf!"

"Dito!"

Das Freizeichen ertönte. "Paß gut auf dich auf, Samantha!"









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